Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Bildqualität | |
Gefühl | |
Humor | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Spannung | |
Nach der Trennung von ihrem Mann und auf der Suche nach einer neuen Anstellung fühlt sich Sabela nicht nur einsam, sondern sie fragt sich auch, wer sie eigentlich ist. Sie weiß nicht, was die Zukunft bringt, fühlt sich gegenwärtig verloren und ein Teil ihrer Familiengeschichte ist ihr völlig unbekannt. Deshalb begibt sie sich in ein kleines spanisches Dorf, in der Hoffnung Informationen zu Fancisco Lamas, ihren Großvater, zu erhalten. Dieser ist vor geraumer Zeit nach Kuba ausgewandert, um dort mehr Geld zu verdienen und damit seine Familie besser versorgen zu können. Das ist alles, was sie über ihn weiß.
Mit ihren Fragen wird sie an den alten, verspotteten und einsiedlerischen Fidel verwiesen, der viele Erinnerungen hat. Doch leider sind diese häufig wirr und nicht immer seine eigenen. Trotzdem versucht Sabela mit seinen Erinnerungsfragmenten den Weg ihres Großvaters allmählich nachzuzeichnen und beginnt fortan, ihn regelmäßig zu besuchen. Einige Dorfbewohner betrachten dies missbilligend, allem voran Tomás, der hartnäckig an dem Gerücht vergrabener Reichtümer auf Fidels Grundstück festhält. Auf keinen Fall darf die Fremde etwas davon bekommen, dafür will er sorgen. Notfalls auch mit Lügen, böswilligen Unterstellungen oder Gewalt.
Wundervoll, außergewöhnlich, philosophisch, ein wenig schwermütig und voller Fantasie. Dass alles zugleich ist Miguelanxo Prados fantastisch visualisierte Graphic Novel "Ardalén", eine ruhige, sich sanft entwickelnde Geschichte über das Erinnern. Sie beschäftigt sich damit, was uns ausmacht, wie stark unsere Erinnerungen mit unserer Persönlichkeit verknüpft sind, und fragt, was geschieht, wenn diese fehlen, wirr sind oder sich mit unseren Wünschen und Fantasien vermischen.
Mit dieser Thematik setzten sich speziell die Protagonisten der Handlung auseinander: Sabela, auf der Suche nach ihrer Abstammung, und Fidel, der immerzu mit seinen und fremden Gedanken allein ist. Denn er gehört zu jenen Menschen, die (selbst ungewollt) Erinnerungen Verstorbener absorbieren.
"Es gibt Winde, die Nostalgie mit sich führen, die eine Narbe in der Seele zurücklassen ...
Andere scheinen das Leben zu reinigen, und nachdem sie vorbeigeweht sind, bleibt der Tag heller und strahlender zurück.
Und dieser Wind, der Ardalén, der von der anderen Seite des Ozeans kommt, ist voller Erinnerungen anderer Leben ...
... anderer Tode."
Verantwortlich dafür ist der Ardalén, ein besonderer (fiktiver) Wind, der Fidels Kopf mit fernen, exotischen Lebensbildern füllt und diese mit seinen eigenen vermischt. So, dass er unter anderem glaubt, einst zur See gefahren zu sein, obwohl er sein Heimatdorf in Wirklichkeit nie verlassen hat. Übersinnlich ist die Handlung deswegen nicht, ebenso wenig finden sich darin übernatürlichen Wesen wieder. Ist sie traumhaft, surreal? Ohne Zweifel! Immerhin entführt sie in Fidels selbst geschaffene Welt aus schönen und tröstlichen, aber auch tieftraurigen und gehässigen Erinnerungen, die in genauso magischen Illustrationen lebendig werden. Genau genommen gleichen Prados zarte, aber farbenprächtige Kreide- und Farbstiftstriche, die in keine auffällig schwarzen Konturen gezwängt sind, viel mehr kleinen Kunstwerken. Denn die Menschen sind lebendig und die Details in ihren Gesichtern, wie etwa die Spuren des Alters, sind einfach genial. Dabei ist die Verschmelzung von Realität und Erinnerung so außergewöhnlich gut gelungen, dass der Betrachter immer wieder innehält, bevor er weiter blättert. Durch die wirklich großartigen Bilder, die stets im Einklang mit dieser poetischen Geschichte stehen, hat auch er an Fidels besonderer Erinnerungswelt teil.
Immer, wenn dieser sich erinnert, ist das Meer ganz nah. Ein blau-grünliches Licht beginnt sein Haus zu füllen, begleitet von Fischen und Quallen, die nun Personen ankündigen: ein enger Freund, eine verlorene Liebe, möglicherweise selbst Fancisco Lamas ...
Doch was davon gehört zu seiner Vergangenheit und was bringt der Ardalén? Wie für den Leser ist auch für Fidel nicht immer klar, was wahr oder erdacht ist. Daher tut ihm Sabelas Gesellschaft sehr gut, die zeitweise seine (imaginären) Gespräche mit den Verstorbenen unterbricht, die ihm zumal bei seinen allmählich aufkeimenden Fragen nicht weiterhelfen können. Ist er das, woran er sich erinnert? Machen die fremden Erinnerungen einen anderen aus ihm? Wer ist er wirklich?
Darüber hinaus erinnern sich weitere Personen, sowohl an die eigene als auch an Fidels Vergangenheit. Durch diese Rückblenden ergibt sich nach und nach ein Gesamtbild.
Trotz der ganzen fantastischen Gedanken und eindrucksvollen Erscheinungen, wie den fliegenden Walen, die zunächst nur Fidel wahrnimmt, bleibt die Erzählung realistisch und die verschiedenen Personen und deren Motivationen sind glaubwürdig. Ferner verleihen die immer wieder eingefügten (fiktiven) Dokumente, wie etwa medizinische Gutachten und Auszüge aus scheinbaren Sachtexten, dem ganzen einen Anschein von Authentizität.
Fazit:"Ardalén" ist ein herausragendes Werk mit beeindruckend künstlerischen Illustrationen und einer tiefgründigen Geschichte. Hier handelt es sich definitiv um Literatur, die nachwirkt. Eine unbedingte Leseempfehlung!