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Die Welt in einer sehr nahen Zukunft: Über den gesamten Globus verteilt arbeiten junge Menschen in Multiplayer-Onlinegames. Die Spiele sind für sie nicht Entspannung und Zeitvertreib, sondern knallharte Arbeit. Da sind etwa Matthew und Lu, die im chinesischen Shenzen für ihren Boss als "Goldfarmer" die virtuellen Welten nach Spielgold und wertvollen Items abgrasen, damit der sie zu echtem Geld machen kann. Abgesehen von einer lächerlich geringen Bezahlung sehen die beiden nichts von all dem Reichtum, den sie erwirtschaften.
Währenddessen führt in Dharavi, einem riesigen Slum im indischen Mumbai, die junge, ehrgeizige Mala ihre virtuellen Armeen zum Sieg gegen Betrüger in Online-Spielen - selbstredend auch im Auftrag eines mächtigen Bosses und für kleines Geld. Dass beide Gruppen - die Goldfarmer und die so genannten "Pinkertons" - von ihren mächtigen Bossen nur gegeneinander ausgespielt und bis aufs Blut ausgebeutet werden, erfahren sie schließlich von einer jungen Frau, die sich Schwester Nor nennt und die die Anführerin einer Gewerkschaft von Online-Arbeitern, den
Industrial Workers of the World Wide Web, ist.
Von Raum und Zeit unabhängig, beginnen die Gewerkschaftsmitglieder, die sich selbst "Webblies" nennen, sich über das Internet zu vernetzen und für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Doch ihre zunächst online ausgetragenen Streiks und Arbeitskämpfe haben rasch erschreckende Auswirkungen auf das reale Leben. Bald gibt es blutige Kämpfe und brutale Überfälle von kriminellen Organisationen, die ihre Felle im World Wide Web davon schwimmen sehen.
Betroffen von den Ereignissen, die sich rasch zuspitzen und dann, fast unbemerkt vom Rest der Welt, eskalieren, sind auch der junge US-Amerikaner Leonard, der in einer chinesischen Gilde spielt und sich deshalb nur noch Wei-Long nennt, und die junge Jiandi, die unter größter Gefahr einen populären Piraten-Radiosender über das Internet betreibt, in dem sie Missstände in chinesischen Unternehmen anprangert.
Das Grandiose an den Visionen und Ideen von Cory Doctorow ist, dass sie bereits jetzt Realität sein könnten, dass sie so absolut wirklichkeitsnah und gerade dadurch so erschreckend sind (siehe auch "
Little Brother"). In "For the Win", dem zweiten Jugendroman des berühmten Bloggers (
www.boingboing.net) und Netzaktivisten, dreht sich alles um Online-Spiele - ein durch und durch harmloses Thema, möchte man zuerst meinen. Doch je weiter man eintaucht in den erbittert geführten Kampf zwischen "Webblies", mächtigen Konzernen und kriminellen Ausbeutern, umso deutlicher wird, dass Online-Games alles andere sein können als harmlos und dass sie bereits jetzt ein milliardenschweres Geschäft darstellen.
Auch die Bedeutung einer zunehmenden globalen Vernetzung von Menschen, Firmen und Ideen und die Auswirkungen auf das Arbeitsleben hat der kanadische Autor beeindruckend und nur ein bisschen weiter in die Zukunft gedacht fortgeführt.
Dem typischen deutschen Zocker dürften Multiplayer-Online-Spiele, wie etwa World of Warcraft, nur als angenehmer Zeitvertreib ein Begriff sein, ein spannendes Hobby mit hohem Suchtfaktor eben. In Cory Doctorows Roman hängen an den Multiplayer-Games Existenzen, und zwar reale Existenzen, vornehmlich in armen Ländern mit noch ärmeren Einwohnern: Die einen verdienen sich mit dem Zocken mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt, wobei ihre Bosse das meiste Geld der 20 und mehr Stunden dauernden Arbeitstage einkassieren. Andere Gamer geraten in Lebensgefahr, als sie sich gegen die unwürdigen Arbeitsbedingungen auflehnen.
"For the Win" macht auch allen, die sich nie zuvor mit Onlinespielen beschäftigt haben, überdeutlich, dass auch das virtuelle Geld aus Spielwelten eben bares Geld ist - und dass für dieses Geld betrogen, gelogen und sogar gemordet wird. Spannend ist auch Doctorows Idee einer global agierenden Gewerkschaft von Online-Gamern, die sich über Kontinente und Firmengrenzen hinweg gegen Armut und Unterdrückung engagiert. Angelehnt ist dies an die real existierende Gewerkschaft
Industrial Workers of the World (IWW), nur dass der Autor das Prinzip zu den
Industrial Workers of the World Wide Web (IWWWW) erweitert hat. Das Verständnis "richtiger" Gewerkschaften haben die zumeist sehr jungen Leute im Roman zunächst nicht, schließlich ist "Spielen" ja nur ein harmloser Zeitvertreib und kein richtiger Beruf, oder?
Doctorow spitzt die Handlung immer weiter zu, verflechtet nach und nach die Handlungsstränge in Indien, Malaysia, den USA und China immer mehr, bis die Gewalt schließlich - ganz real, nicht online - eskaliert und es mehr und mehr Opfer auf den Seiten der Webblies zu verzeichnen gibt.
Fazit: "For the Win" ist eine äußerst clevere und spannende Zukunftsvision, die gar nicht weit entfernt scheint. Mühelos verbindet Cory Doctorow Ereignisse in Indien, China, den USA und weiteren Ländern zu einem hochspannenden und komplexen Thriller, der zwar vordergründig von Online-Spielen handelt, in Wirklichkeit aber von Armut, Arbeitskampf, Ausbeutung und Solidarität berichtet. Die Auswirkungen der Globalisierung und der weltweiten Kommunikation via Web, die Landesgrenzen und Sprachbarrieren nichtig machen, werden hier sowohl mit ihren hilfreichen als auch in ihren erschreckenden Begleiterscheinungen sichtbar.
Der Roman enthält am Ende ein hilfreiches Glossar mit Gamer-Sprech-Begriffen, denn auch passionierten Spielern dürften nicht alle Ausdrücke, die im Buch auftauchen, geläufig sein.