Media-Mania.de: Paulo, Sie wurden mit Ihrem schonungslosen Roman über die von Gewalt geprägte Favela "Cidade de Deus" in Rio bekannt, der in Brasilien und weit darüber hinaus die Menschen für die Not in den Slums sensibilisiert hat. Ihr neues Werk "Seit der Samba Samba ist" befasst sich mit dem Durchbruch des lange verbotenen Samba Ende der 1920er-Jahre: der Samba als Ausdruck des Lebensgefühls der unterdrückten Schwarzen, der nicht nur ihre Musik, sondern auch ihre Religionen, ihre Erzählungen, ihre Emotionen, ihr ganzes Generationen umfassendes Leid und ihre dennoch enorme Lebensbejahung beinhaltet. Ein historisches und damit ganz neues Thema gegenüber Ihrem ersten Roman – oder doch nicht, wie ich nach der Lektüre meine?
Paulo Lins: „Seit der Samba Samba ist“ beschreibt den Kampf unserer schwarzen Vorfahren, die sich gegen die Sklaverei und eine Welt, in der ihre Kultur unterdrückt wurde, behaupten mussten. Eine Welt, in der die weißen Europäer dominierten, die wollten, dass man ihre Religion, den Katholizismus, annahm, koste es, was es wolle. Sie wollten die afrikanische Kultur auslöschen. „Die Stadt Gottes“ hingegen zeigt nicht die Vergangenheit der Schwarzen auf, sondern die Gegenwart, wie im heutigen Brasilien immer noch Rassismus und soziale Ungerechtigkeit vorherrscht. In diesem Sinne sind meine beiden Romane verbunden.
Media-Mania.de: Wie fanden Sie zu der Buchidee? Interessierten Sie sich schon vorher für den Samba? Bei Ihrem Interview im Brasilien-Pavillon auf der Buchmesse hörte ich sogar, dass Sie selbst Samba singen können.
Paulo Lins: Ich bin in der Mitte des Sambas geboren. Bevor ich zur Schriftstellerei kam, habe ich schon Sambatexte geschrieben und auch gesungen.
Media-Mania.de: Viele der wichtigen Personen im Roman haben wirklich gelebt – so, wie Sie es beschreiben. Die Musiker Silva, Bide, Bastos und etliche andere haben in den 20er-Jahren ihren Durchbruch gehabt und dem Samba zum Durchbruch verholfen, und auch Tia Almeida, die ihnen sozusagen eine Plattform und Schutz bietet, hat es gegeben. Wie lange haben Sie recherchiert? Konnten Sie Zeitzeugen befragen? Sind die Protagonisten Brancura und Valdirene fiktiv?
Paulo Lins: Ich habe fast fünf Jahre damit verbracht, zu recherchieren, und noch einmal fünf Jahre, um den Roman niederzuschreiben. Tatsächlich konnte ich Zeitzeugen befragen, Achtzigjährige, die zu der Zeit noch Kinder waren. Ich habe sogar zwei professionelle Anthropologen engagiert , um mir bei den Recherchen zu helfen. Nur Sodré und Valdirene entspringen meiner Fantasie, der Rest der Figuren sind bzw. waren real.
Media-Mania.de: Der Samba war lange Zeit verboten, da die weiße Oberschicht befürchtete, die Schwarzen, deren Subkultur sie nicht verstand und natürlich auch nicht respektierte, würden durch diese Lieder und Tänze zum Aufstand verleitet. Mit der Zeit wurde der Samba nicht nur geduldet, sondern gesellschaftsfähig und schließlich so etwas wie ein Kulturgut Brasiliens. Wie viel vom ursprünglichen Samba steckt eigentlich noch in den Tänzen – Tanzschritten und –figuren sowie Musik -, die heute beim Karneval präsentiert werden? Und in denen, die in Europa in Tanzschulen und -clubs und ihren Turnieren zu sehen sind? Ist der Samba heute noch ein Identifikationsmittel?
Paulo Lins: Der Samba in den Gemeinden hat meiner Ansicht nach noch die gleiche Kraft wie zu anfangs. Die Schwarzen haben eine sehr starke Kultur, die sie sich durch den Samba bewahren konnten. Der Samba half ihnen, sich gegen eine Welt voller Rassismus und Sklaverei zu behaupten.
Media-Mania.de: Das Ende Ihres Romans bietet eine große Überraschung, einen der schönsten und versöhnlichsten Abschlüsse, die ich je gelesen habe. Zwei Todfeinde, ein Schwarzer und ein Weißer, finden über die Zwillingsbabys, die die von beiden geliebte Frau geboren hat – jeder ist Vater eines der Babys -, den Frieden miteinander und übernehmen Verantwortung. Welche Möglichkeiten könnte das reale Brasilien nutzen, um die eklatanten Klassenunterschiede aufzubrechen, die meines Wissens überwiegend mit der Hautfarbe gekoppelt sind? Gibt es Ansätze? Ich hörte, hinsichtlich der Bildung seien Fortschritte erzielt worden.
Paulo Lins: Brasilien befindet sich in der Tat auf dem Weg, sein Bildungssystem zu verbessern. Und nicht nur in der Bildung, auch im Gesundheitswesen und in der Infrastruktur wird nun mehr gemacht. Uns fehlt es nicht am Geld, was fehlt, ist der politische Willen.
Media-Mania.de: Sie stammen, las ich, selbst aus einer Favela und sind der Einzige in der Familie, der studieren konnte. Woher stammte der Impuls, das zu tun – sich aus dem Elend der Favela zu lösen? Diese Frage ist durchaus auch für deutsche Großstädte interessant, in denen sich sehr problematische Viertel herausgebildet haben.
Paulo Lins: Wir wollen doch alle unser Leben in die eigene Hand nehmen und etwas aus uns machen. Da ich der jüngste Sohn einer Familie mit vier Brüdern bin, hatte ich das Privileg, nicht arbeiten zu müssen, um mir mein Studium zu finanzieren. Ich konnte immer viel lernen.
Media-Mania.de: Können Sie uns bereits verraten, welches Thema Ihr nächstes Werk haben wird?
Paulo Lins: Mein nächstes Werk ist noch gar nicht Planung. Erst einmal schreibe ich an einem Drehbuch für eine brasilianische Telenovela über die Sklaverei.
Media-Mania.de: Vielen Dank für das Interview und für Sie weiterhin viel Erfolg und alles Gute!
Rezension zum Buch bei Media-Mania.de
Das Interview wurde per E-Mail geführt. Dankenswerterweise übernahm der Verlag die Übersetzung ins brasilianische Portugiesisch und zurück.