über "Die Verzauberung der Welt", im September 2014 bei Siedler erschienen
Media-Mania.de: Herr Professor Fischer, in Ihrem Buch "Die Verzauberung der Welt" zeigen Sie auf, welch enge Beziehungen zwischen den Naturwissenschaften und der Kunst, der Poesie, der Religion, der Kultur insgesamt und der Romantik bestehen. Könnten Sie dies bitte umreißen?Ernst Peter Fischer: Normalerweise sagt man ja, dass die Wissenschaft trocken, nüchtern ist, systematisch, genau, präzise, umfassend, und damit die Welt gewissermaßen erledigt, weil man alles darüber weiß. Dafür gibt es das Modewort "Die Naturwissenschaften entzauberten die Welt", mit anderen Worten, danach gibt es nichts Interessantes mehr. Das ist der Zeitgeist. Ich bin ganz anderer Meinung, nämlich, dass der Zugriff der Naturwissenschaften als eine Erklärung dessen, was man als Phänomen kennen lernt, die Welt nur geheimnisvoller und damit schöner macht. Auf meiner Seite habe ich ein paar gute Zeugen, einer davon ist Carl Friedrich von Weizsäcker, der mal gesagt hat, man sollte nicht denken, dass die Naturwissenschaften Geheimnisse auflösen, sondern sie vertiefen sie nur. Und Einstein hat gesagt, das Schönste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl für das Geheimnisvolle. Somit können gerade naturwissenschaftliche Erklärungen das Gefühl für das Geheimnisvolle liefern.
Ich komme gleich zum Romantischen. Das einfachste Beispiel: wie kommt es, dass Sie auf dem Stuhl sitzen können? Zweitausend Jahre, von Aristoteles bis Newton, war das ein Rätsel, ein Geheimnis. Dann ist der Engländer Newton darauf gekommen, dass da die Schwerkraft beteiligt ist, die Gravitation. Seitdem erklärt das Schulbuch, der freie Fall kommt durch die Schwerkraft zustande, und man hat das Gefühl, jetzt ist das erklärt - und entzaubert. Aber Sie müssen mir jetzt noch erklären, was die Schwerkraft ist. Das Einzige, was Sie haben, sind ein Apfel am Baum oder ihr Körper auf dem Stuhl und die Erde. Nur Materie. Und plötzlich ist da eine Kraft. Wie kommt die zustande? Das ist ein bis heute nicht gelöstes Rätsel, ein Geheimnis. Inzwischen gibt es ein Gravitationsfeld und alles Mögliche, aber die komische Antwort von Albert Einstein heißt, dass die Kraft dadurch zustande kommt, dass die Materie die Raumzeit krümmt. Und jetzt haben Sie's verstanden [er schmunzelt].
Wir haben mit dem einfachen Beispiel Apfel angefangen und sind jetzt bei der Krümmung der Raumzeit gelandet. Das heißt, die Erklärung ist geheimnisvoller als das Phänomen. Ich glaube aber, dass die Naturwissenschaften noch viel mehr machen. Es gibt eine schöne Definition von Novalis, dem romantischen Dichter – Stichworte: Heinrich von Ofterdingen, die blaue Blume der Romantik, Hymnen an die Nacht. Und der hat gesagt: Wann romantisiert man die Welt? Er hat vier Kriterien genannt: dem Gemeinen einen hohen Sinn geben, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten und dem Endlichen einen unendlichen Schein.
Das klingt zunächst mal schwammig und komisch, aber es ist genau, was die Naturwissenschaft macht, und ich zeige es Ihnen an einem Beispiel. Nehmen wir mal "dem Bekannten die Würde des Unbekannten geben". Das haben wir eben gemacht. Wir geben dem Fallen des Gegenstandes, was bekannt ist, die Beschreibung der Schwerkraft, die unbekannt ist. Dann: dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen geben. Das ist vor über hundert Jahren gemacht worden. Gewöhnlich und ganz einfach vorhanden ist das Licht. Die Sonne scheint, die Lampe geht an, das ist nichts Besonderes, es ist gewöhnlich. Aber wenn Sie das erklären wollen, kommen Sie zu keinem Ergebnis. Die Physiker erklären seit über hundert Jahren, dass das Licht Welle und Teilchen zugleich ist. Das bedeutet aber nur, dass sie nicht wissen, was es ist. Mit anderen Worten, Licht bleibt geheimnisvoll, und jetzt kommt wieder mein Satz von Einstein: Das ist das Schönste, was uns passieren kann, denn jetzt haben wir ein Gefühl für das Licht, das Licht freut uns, wir sind empfänglich dafür. Also, die naturwissenschaftliche Erklärung für das Licht entzaubert dieses Phänomen bisher nicht, sondern verzaubert es.
Jetzt müssen wir noch dem Endlichen einen unendlichen Schein geben. Das kann man am einfachsten auch wieder mit dem Licht machen. Wenn Sie sich vorstellen, sie lassen einen Lichtstrahl auf einen Spiegel fallen, wird er reflektiert. In den Physikbüchern steht, dass es ein Gesetz dafür gibt, das heißt "Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel". Die malen im Physikbuch einen schwarzen Strich, das ist das Licht, und einen anderen schwarzen Strich, das ist der Spiegel, auf den trifft der erste Strich, und dann ist ganz klar, wie bei einer Billardkugel, Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel. Aber wir haben doch eben gesagt, dass Licht Welle und Teilchen sein kann. Und für diesen Fall ist es einfacher, wir lassen das Licht Teilchen sein. Dann ist da kein Strich, der auf einen Strich trifft, sondern ein Strom von Teilchen, der auf einen See von anderen Teilchen trifft. Das ist ungefähr so, wie wenn Tischtennisbälle auf Kopfsteinpflaster schlagen. So ist aber nicht mehr Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel, sondern Chaos. Um das hinzukriegen, gibt es eine Theorie in der Elektrodynamik, die dem Licht, das von der Quelle ausgeht, alle Wege erlaubt, die es gibt, also unendlich viele. Und das heißt mit anderen Worten, um so ein einfaches Gesetz wie "Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel" zu erklären, müssen Sie dem Licht eine unendliche Fähigkeit geben, also geben Sie dem Endlichen einen unendlichen Schein.
Die vierte Bedingung: Sie müssen dem Gemeinen einen hohen Sinn geben. Gemein heißt hier nicht hinterhältig, fies oder bösartig, sondern: was jeder kann, allgemein. Wenn Sie zum Beispiel zu Hause ein Essen vorbereiten, verwandeln sie allgemeine Handlungen, also Rühren, Erhitzen, in ein fantastisches Gericht. sie verzaubern die Welt durch allgemeine Handlungen, indem sie diese in die richtige Reihenfolge bringen. Das ist ein hoher Sinn. Bei der Wissenschaft liegt der hohe Sinn darin, die Bedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern. Das ist der ursprüngliche Sinn von Wissenschaft: den Menschen zu helfen. Jede gemeine Handlung des Wissenschaftlers hat diesen hohen Sinn. Und damit sind alle vier Bedingungen des Romantischen erfüllt. Ich persönlich bin absolut davon überzeugt, dass wir die Wissenschaft in der Neugierde, Dramatik und Spannung, die die Forscher oft an den Tag legen, nur verstehen können, wenn wir nicht nur annehmen, dass sie ein Unternehmen der Vernunft, der Rationalität, der Systematik und des Messens ist, sondern auch eine Leidenschaft, ein gefühlsbetontes Unternehmen, also in einem Wort: romantisch.
Media-Mania.de: Ein Stück weit sind Sie ja schon darauf eingegangen: Was ist das "Schöne", "Zauberhafte" an den Naturwissenschaften?Ernst Peter Fischer: Das Zauberhafte ist, dass Sie immer wieder auf Erklärungen stoßen, die Sie dann weiter vertiefen können. Das heißt, jedes Mal, wenn Sie eine Erklärung bekommen - zum Beispiel beim Fall die Schwerkraft, danach das Schwerkraftfeld -, ist das eigentlich nur die nächste Frage. Das Zauberhafte heißt doch, dass ich ein Gefühl dafür bekomme, dass es etwas Offenes gibt, an dem ich mich beteiligen kann, dass ich eine Ahnung von der Tiefe einer Dimension bekomme und mich verzaubert fühle durch das Phänomen. Das passiert immer und an jeder einzelnen Stelle.
Es ist Ihnen und allen Lesern sicher bekannt, dass Wasser H2O ist. Aber sagen Sie mal, was Sie damit meinen. Wenn Sie Wasser trinken, ist das was ganz anderes. Nehmen wir das Glas hier: Können Sie das Glitzern des Wassers durch H2O erklären? H2O ist nicht flüssig, H2O schmeckt nicht, H2O ist einfach nur ein Symbol, eine Formel, von der man sicher sein kann, dass die Moleküle da drin so aufgebaut sind. Aber ich kann Ihnen ja kein H2O-Molekül in die Hand drücken. Was ist also ein H2O-Molekül wirklich, wenn Sie es nicht in die Hand nehmen können? Sagen sie nicht, es ist zu klein. Der Gag ist, dass auf dieser, der atomaren, molekularen Ebene gar keine Dinge mehr sind, sondern Symmetrien, Erscheinungen, Formen, Gestalten. Und das ist doch zauberhaft, oder? Sie brauchen auch gar keine Details der quantenmechanischen oder thermodynamischen oder chemischen Art zu wissen, um sich mit Wasser zu beschäftigen. Sie müssen nur verzückt sein über das Wasser, sich daran freuen, dass Sie es trinken können, dass Sie darin baden können, also Freude an der Wahrnehmung dieser Welt haben. Dann fangen Sie automatisch an, darüber nachzudenken, wie das alles zustande kommt, und das ist für mich der Zauber der Dinge.
Media-Mania.de: Die Tatsache, dass der Schulunterricht vielfach das Interesse an den Naturwissenschaften eher austreibt als unterstützt, ist alles andere als neu. Wie lange trugen Sie sich mit dem Gedanken, dieses Buch zu schreiben, ehe Sie damit begannen? Gab es ein akutes Motiv?Ernst Peter Fischer: Ich habe im Jahre 2001 ein Buch geschrieben: "Die andere Bildung", und zwar, weil mich ein anderes Buch, das davor erschienen war, geärgert hat; es war "Bildung" von Dietrich Schwanitz. Darin steht, dass die Naturwissenschaften nicht zur Bildung gehören. Ich denke zwar nicht, dass er das so richtig ernst meinte; er konnte dazu halt nicht viel sagen und wollte das Kapitel auf drei Seiten abhandeln. Trotzdem glaube ich, dass die Naturwissenschaften in den Schulen so unterrichtet werden, dass sie gerade nicht mehr zur Bildung gehören. Ich mache Ihnen ein ganz einfaches Beispiel: Sie haben Kinder?
Media-Mania.de: Einen Sohn, vierzehn.Ernst Peter Fischer: Lassen Sie sich, wenn demnächst Abitur ist an seiner Schule, die Abituraufgaben geben. Jene in Deutsch verstehen Sie. Da werden Gedichte interpretiert, da wird ein Text von Schiller interpretiert. Auch die Aufgaben in Kunst verstehen Sie, nicht jedoch die Aufgaben in Physik, und ich wette mit Ihnen, die Lehrer auch nicht. Die setzen einfach nur Formelkram ein. Das heißt, die Physik ist nichts, worüber sich Schüler mit ihren Freunden und Eltern unterhalten können. Man nennt das Ausklammern. Ich nenne es gern AUSbildung mit Betonung auf "Aus". Die Schüler werden ausgebildet in dem Sinne, dass sie wissen, Physik ist draußen, das braucht keiner. Und das ärgert mich.
Dabei kann man über so vieles in der Physik als Bildungsgut sprechen. Ein einfaches Beispiel: wir reden alle vom Sonnenuntergang, wissen aber, dass es keinen gibt, weil sich die Erde dreht. Wie kommt es, dass wir trotzdem vom Sonnuntergang reden? Was passiert da eigentlich? Und wie kann man sich selbst davon überzeugen, dass die Sonne größer ist als der Mond? Das war in der griechischen Antike eine große, spannende Frage. Solche Sachen zu überlegen … Oder der Sternenhimmel: da muss man keine kosmologischen Theorien entwickeln, sondern nur eine ästhetische Freude haben und dann darüber sprechen, was einen eigentlich dazu anregt, Wissenschaft betreiben zu wollen. Die erste Naturwissenschaft war Astronomie und nicht Botanik oder so.
Warum hat man zuerst Sternenbeobachtung gemacht? Warum will man den Kosmos verstehen, und was ist an diesem Kosmos so grandios zu verstehen? Ich glaube, dass alle das wissen und sich darüber unterhalten wollen. Deshalb muss die Wissenschaft in der Schule so unterrichtet werden, dass sie Stoff liefert, über den sich die Schüler mit ihren Eltern unterhalten können. Das tut man in allen Fächern außer den Naturwissenschaften. Furchtbar!
Außerdem erwecken die Lehrer und die Moderatoren im Fernsehen immer den Eindruck, dass es irgendwo DIE Wahrheit gibt, die die Naturwissenschaften vermitteln können, Wasser ist H2O, der freie Fall erfolgt durch Gravitation, und danach ist Schluss, Ende der Durchsage, jetzt können wir was anderes machen. Aber alle diese Erklärungen sind erst mal historisch gewachsen und haben Gegenposition gehabt, die heute noch genauso gültig sind. Es ist überhaupt nicht leicht, die simpelsten Sachen zu verstehen. Ein gutes Beispiel: wie hat man eigentlich entdeckt, dass es ein Element namens Sauerstoff gibt? Woher wissen Sie eigentlich, dass die Luft, die uns umgibt, nicht ein Element ist, wie die Leute in der Antike gedacht haben, sondern aus x Gasen besteht, und eines davon ist Sauerstoff? Wie Identifizieren Sie Sauerstoff? Haben Sie schon mal Sauerstoff in die Hand genommen? Nein. Warum sind Sie dann sicher, dass es ihn gibt? Das sind doch ganz einfache Fragen, über die man sich austauschen kann.
Wenn man nachschaut, wie Wissenschaft historisch gewachsen ist, bekommt man große Lust, herauszufinden, wie sich Menschen in ihrer Umgebung, ihrer Welt zurechtfinden, und das ist eigentlich Naturwissenschaft, nicht die Erstellung eines Gesetzes zur Ingenieursanwendung, der Konzeption neuer Bremsbeläge und so weiter. Das ist auch wichtig, aber man soll es außerhalb der Schule machen. Es ist AUSbildung - was wir in der Schule brauchen, ist aber EINbildung. Sie müssen sich ein innerliches Bild machen können, und über dieses innerliche Bild müssen Sie mit jemandem sprechen können, Ihren Eltern zum Beispiel.
Und noch Folgendes: das rationale Wissen, das in der Schule gelehrt wird, wird dann abgefragt in Klausuren und Prüfungen. Ich glaube aber, dass das nicht hilft, wenn man jede Menge verstehen will. Meine Grundhaltung ist die, dass die Menschen eigentlich von Natur aus primär ästhetische Wesen sind, die von den Sinneseindrücken leben, und ich beobachte an meinen Enkeln, dass sie enorm viel sehen, sich wundern über Lichtreflexe auf dem Wasser, Blütenfarben, warum Zucker süß ist. Das sind sinnliche Bedürfnisse, und in der Schule werden sie durch irgendwelche Begriffe beantwortet. Das Licht wird in einen Strahl verwandelt, der irgendwo auf eine Oberfläche auftrifft, sodass vom eigentlichen Phänomen nichts mehr da ist. Schülerinnen und Schüler kommen ästhetisch neugierig in die Schule, werden durch die Erklärungen der Lehrer begrifflich gelangweilt, gehen wieder nach Hause und haben keine Lust mehr. Das Einzige, was hängen bleibt, ist, dass es eine Formel gibt, mit der man berechnen kann, wie ein Ball geworfen werden muss, damit er durch den Ring kommt.
Das kann man berechnen, aber doch nur, wenn man Lust daran hat. Man muss verstehen, wie bei Würfen Kraft, Geräuschbild, Trägheit eine Rolle spielen. Das kann man anschaulich diskutieren, und dabei kann man ein Gefühl dafür bekommen, dasselbe Gefühl, das man braucht, um mit dem Ball zu spielen. Diese Art der Wissenschaft bleibt fürs Leben, denn die Formel haben Sie vergessen, wenn Sie aus der Prüfung rauskommen. Aber wir wollen ja fürs Leben lernen. Beim Fußballspielen mit meinen Enkeln frage ich sie auch, warum sie getroffen haben oder ich danebengetreten habe, was da zusammenkommt. Man muss keine komplizierten Gleichungen bringen, sondern nur die Beobachtungen, die die Kinder selbst machen.
Media-Mania.de: Anders als viele Kritiker beschränken Sie sich nicht aufs Beschweren, sondern zeigen konkrete Lösungen auf. Mir hat nicht zuletzt Ihre Idee des Studiengangs "Wissenschaftsgestaltung" sehr gut gefallen. Bitte erzählen Sie ein wenig darüber.Ernst Peter Fischer: Das moderne Schlagwort heißt Wissenschaftskommunikation. Diese Woche wurden ja die Nobelpreise verliehen. Wie wird das kommuniziert? Die Schwedische Akademie gibt eine Presseerklärung heraus, die Journalisten übernehmen sie, und das lesen die Leser. Das beste Beispiel: ein prominenter Deutscher, Bundespräsident Gauck, hat die Presseerklärung auch übernommen. Er hat dem deutschen Nobelpreisträger Hell mit der Presseerklärung gratuliert. Das ist reiner Schwachsinn. Jeder weiß doch, dass Herr Gauck keine Ahnung von der Physik hat, die dahinter steckt. Warum muss Herr Gauck mir erklären, was der Nobelpreisträger gemacht hat? Gauck soll was anderes tun, der soll dem Ganzen ein freudiges Bild geben, das er empfindet!
Und mit Wissenschaftsgestaltung meine ich Folgendes: Ich glaube, dass die beste Vermittlung von Wissenschaft nicht die präzise Wiedergabe des Experimentes ist, sondern die Verwandlung des Gemachten in ein anschauliches Modell. Meinetwegen eine Filmszene, ein kleines Dramulett oder ein Bild. Man muss versuchen, bestimmte Erscheinungen der Quantenphysik, die Doppelnatur von Welle und Teilchen, als künstlerisches Bild zu formulieren, dann hat man eine innerliche Vorstellung, mit der man spazieren gehen kann. Meine Idee ist, dass Künstler eine Grundausbildung in der Erkenntnis der Wissenschaft haben sollen, um anschließend das Bild, das sie sich dabei machen, zu generieren. Dann soll die Vermittlung der Wissenschaft über die gestaltende Information dieser Künstler gehen. Dazu braucht man den Studiengang Wissenschaftsgestaltung, den ich nach wie vor für machbar halte, und dafür gibt es meiner Meinung nach ein großes Interesse.
Offiziell existiert ein solcher Studiengang, der heißt "Visuelle Kommunikation". Aber visuelle Kommunikation ist nur die Methode, und es kommt ja auch darauf an, dass der Inhalt der Wissenschaft da ist. Ich glaube, dass man über historische Beispiele und einen entsprechenden Studiengang den Lernenden schnell beibringen kann, was Wissenschaft wirklich weiß. Sie brauchen nicht die Details der Genetik zu kennen, jede Sequenz eines Bakteriums, um zu begreifen, was es bedeutet, dass man Gensequenzen kennt, was eine Gensequenz eigentlich ausmacht. Die Frage ist: Angenommen, ich kenne die Gensequenz einer Zelle, was bedeutet das für die Zelle? Das weiß der Biologe nicht, aber vielleicht hat der Künstler eine Vision, wie man das herausstellen kann. Auf der einen Seite hat man eine Information durch die Gene, auf der anderen Seite muss die Zelle sehr flexibel sein. Die Wissenschaft kann das im Detail gar nicht finden, aber der Künstler kann sich sozusagen eine EINbildung machen. Wie gesagt, wir brauchen keine Ausbildung in Wissenschaft, sondern eine Einbildung von Wissenschaft. Es kommt darauf an, dass sich die Künstler ein inneres Bild machen und diesem so Ausdruck verleihen, dass die Leute, die sich dafür interessieren, zum Schluss an einem eigenen inneren Bild weiter arbeiten können, mit dem sie zufrieden sind. Und was will man mehr, als dass ein Mensch zufrieden ist?
Media-Mania.de: Ein Naturwissenschaftler wird schräg angeschaut, wenn er Monet und Manet nicht unterscheiden kann, es macht aber laut gewissen Sachverständigen wie dem bereits von Ihnen erwähnten Schwanitz nichts, wenn man keine Ahnung von Naturwissenschaften hat. Dieses Fehlen von naturwissenschaftlichen Grundkenntnissen ist in der Tat weit verbreitet. Wenn ich etwa einem Künstler, Juristen oder Wirtschaftswissenschaftler erkläre, dass ich die Fotografie als Mittel zur Entschleunigung liebe, weil sie die normalen vier auf zwei Dimensionen herunterbricht, und helfend hinzufüge: "Einstein!", ernte ich nur irritierte Blicke. Woher rührt diese – wie soll man sagen – Selbstzentriertheit, vielleicht auch Selbstgerechtigkeit und Arroganz der Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler? Wie kann man ihr begegnen?Ernst Peter Fischer: Das ist eine Frage, die ich nicht so ohne Weiteres beantworten kann. Ich persönlich habe das Gefühl, dass das Neid ist. Die Sozialwissenschaften haben immer versucht, eine soziale Physik zu sein. Sigmund Freud hat versucht, einen Energiesatz für die Seele zu finden. Diese Wissenschaften wollten sozusagen den Erfolg der Naturwissenschaften auf ihre Fahnen schreiben und sind alle gescheitert. Ich glaube, dass da auch viel Verzweiflung drinsteckt. Man wollte gern eine soziale Physik haben und diese genauso exakt begründen, man wollte Gesetze der gesellschaftlichen Formation haben und Gesetze, die die Geschichte machen, das ist aber alles nicht so. Und das Vorbild der Naturwissenschaften ist zu groß gewesen.
Irgendwann hat man etwas gegen die Naturwissenschaften gehabt, das aus der Zeit der Romantik stammt. So schön die Romantik als wissenschaftlicher Hintergrund ist: um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war zum ersten Mal klar, dass die Naturwissenschaften etwas konnten. Das große Modell war die newtonsche Gravitationslehre, über die wir bereits gesprochen haben. Plötzlich war offensichtlich, dass damit nicht nur das Fallen von Steinen und das Sitzen von Personen auf Stühlen erklärt werden können. Newton hatte vorausgesagt, dass die Erde abgeplattet ist. Das hatte man nun nachgemessen. Und Newton hatte erklärt, wie Ebbe und Flut und bestimmte Spiralen im Weltall zustande kommen. Er konnte die Gesetze der Planetenbewegung erklären. Dabei entstand das Gefühl, dass die Naturwissenschaften alles erklären können. Alles war durch die naturwissenschaftlichen Gesetze hinterlegt, die vollständig deterministisch sind, und dadurch war der Mensch nicht mehr frei.
Das hat den Leuten Angst gemacht. Die Romantiker brachten den Befreiungsschlag und sagten, Quatsch, man muss zwei Dinge unterscheiden: die Tatsachen, das macht die Naturwissenschaft – wenn der Tisch umfällt, ist das eine Tatsache, erklärbar durch die Kraft, die ich gegen den Tisch aufwende, und die Schwerkraft, die ihn nach unten zieht. Aber andere Sachen macht die Naturwissenschaft nicht. Zum Beispiel, dass Sie wollen, dass der Tisch umfällt, und dass Sie wollen, dass ein Gerät eingeschaltet wird. Das sind die Werte, und Werte, sagen die Romantiker, sind freie Entscheidungen, meine Schöpfungen, mit denen die Naturwissenschaften nichts zu tun haben. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass es sozusagen einen hochwertigen und einen minderwertigen Bereich des Lebens gibt; der hochwertige ist der, wo die Naturwissenschaften nichts zu sagen haben, und der minderwertige ist der, wo die Naturwissenschaften arbeiten. Da hat sich dann bei manchen Philosophen an den Randzonen die Idee durchgesetzt, Naturwissenschaft sei minderwertig, sie spricht von minderen Wahrheiten, sie denkt nicht, all dieses Gemurmel von Heidegger und diesen Kröten. Das ist geblieben.
Und man hat auf der einen Seite Angst vor der großen Qualität der Naturwissenschaften; denn wenn Sie das Leben, das Sie führen, anschauen, ist alles Naturwissenschaft. Sie fangen mit dem Radio morgens an, dann stellen Sie die Kaffeemaschine an, dann fahren Sie mit dem Auto zur Arbeit, dabei haben Sie dann schon längst ihre E-Mails gelesen, Sie telefonieren; das hat mit Philosophie nichts zu tun, das ist alles Naturwissenschaft. Das ganze Leben ist abhängig von wissenschaftlicher Qualität, und Sie setzen unablässig Vertrauen darein. Sie setzen sich ins Flugzeug, Sie treten auf die Bremse, Sie haben keine Angst, dass da eventuell ein logischer Fehler drin ist. Das ist ein Riesenerfolg, aber er hat natürlich seinen Preis, nämlich, dass wir von der Natur eventuell entfremdet werden.
So hat man das Gefühl, dass man für eine Rettung der Seelen sorgen muss. Früher gab es dafür die Theologie, jetzt die Sozialwissenschaften, die das aber abdecken, indem sie die Naturwissenschaften schlechtmachen, wenn sie sagen: Die entzaubern die Welt. Ohne zu wissen, was die Naturwissenschaften wirklich tun, nämlich durch ihre Erklärungen die Geheimnisse vertiefen und dadurch die Welt verzaubern.
Media-Mania.de: Wie fanden Sie persönlich Zugang zu den Naturwissenschaften? Gab es einzelne Personen, etwa zu Hause oder in der Schule, die Ihr Interesse geweckt und gefördert haben, oder gab es einfach ein dafür offenes und gutes Umfeld?Ernst Peter Fischer: Ich bin Nachkriegskind, 1947 geboren, bei uns zu Hause gab es keine Bücher. Es gab was zu essen und liebe Eltern, die den ganzen Tag gearbeitet haben. Sie hatten einen kleinen Tabakwarenladen, und das war's. Dass mein Bruder und ich zum Gymnasium gekommen sind, verdanken wir nur einem Onkel, der darauf bestand, und der Tatsache, dass damals das Schulgeld abgeschafft wurde. Also war ich plötzlich auf dem Gymnasium, ohne zu wissen, was man dort eigentlich macht.
Aber dann kam ein Erweckungserlebnis. Als ich vierzehn war, hatte ich einen Lehrer, der der Meinung war, so ginge das nicht weiter, ich könnte nicht nur rumlaufen und Fußball spielen, sondern ich müsste auch mal was Ernsthaftes machen. Er schlug vor, dass er mich mal in die Stadt mitnehmen würde, und wir sind in eine Buchhandlung gegangen. Ich war vorher noch nie drin. Es war 1961/62, die große Zeit, als die ersten Taschenbücher aufkamen, Dtv, Rororo, Ullstein, … Rechts neben dem Eingang standen die Drehregale mit den neuen Büchern. Da habe ich das irische Tagebuch von Heinrich Böll herausgenommen, das hat mir aber nicht gefallen. Ich habe ein paar andere angeschaut, und dann habe ich ein Buch in die Hand genommen, das hieß "Mein Weltbild", ganz neu, und der Autor war ein Mann namens Albert Einstein. Von dem hatte ich noch nie gehört.
Ich schlug das Buch auf – das ist wirklich so passiert – auf Seite 47 – mein Geburtsjahr! -, und da stand: "Töten im Krieg ist Mord." Ich dachte: Das ist die Lösung. Damals wusste ich nämlich schon, dass ich irgendwann Wehrdienst machen musste und dass ich das nicht wollte. Mit dem Satz wusste ich auch, warum: dank einem Mann namens Einstein. Ich habe den Buchhändler gefragt, wer das ist, der meinte, das sei ein großer Physiker, ich habe gesagt, gut, dann kaufe ich mir das Buch – für eine Mark achtzig. Ich habe es heute noch. Dann habe ich in dem Buch gelesen und nichts verstanden. Da kam was von Relativitätstheorie … und ich habe mir gedacht, besorgst du dir eine gute Note im Physikunterricht, indem du zum Physiklehrer gehst und Ihm Interesse zeigst, indem du sagst: Gucken Sie mal, was ich gefunden habe, ganz tolle Physik. Nobelpreisträger, großer Mann, Albert Einstein – ich wusste zwar immer noch nicht genau, wer das war –, erklären Sie mir mal, was da steht. Und dann hat der das Buch von Einstein genommen, hat es angeguckt und mir gesagt, ich soll ein paar Tage später nachmittags wieder kommen. Komisch. Ich habe das gemacht, und er hat mich in ein dunkles Zimmer geführt, die Tafel vollgeschrieben, ohne mich zu Wort kommen zu lassen. Er hätte sagen müssen, er versteht das nicht. Stattdessen hat er mich vollgeschwallt mit Zeug, das er auch nicht verstanden hat.
Ich bin da aber mit dem Gefühl rausgekommen, dass, wenn der Lehrer das nicht versteht, es was ganz Tolles sein muss. Und ich habe mir gedacht: Ich habe einen guten Deutschlehrer, also lerne ich gut Deutsch, ich habe einen guten Geschichtslehrer, also lerne ich gut Geschichte, ich habe einen guten Lateinlehrer, also lerne ich gut Latein, aber ich habe einen Scheißphysiklehrer, also lerne ich keine Physik. Wenn ich das lernen will, muss ich es studieren. Und das habe ich gemacht. Eigentlich wollte ich Lehrer für Physik werden, aber die eigentlichen Themen wie Einsteins Relativitätstheorie kamen damals im Lehrerkolleg fürs Staatsexamen gar nicht vor, also habe ich stattdessen fürs Diplom gelernt, und auf einmal war ich promoviert.
Media-Mania.de: Über ihren Doktorvater stehen Sie ja in einer großen Tradition, die auf Bohr zurückgeht, nicht wahr?Ernst Peter Fischer: Ja, mein Doktorvater war Max Delbrück, der Nobelpreisträger. Das war auch wieder Zufall. Ich habe in Köln studiert und gearbeitet, und Max Delbrück, der aus Berlin stammt, aber damals schon in Kalifornien lebte und arbeitete, hat in den 60er-Jahren in Köln die Genetik aufgebaut. Als ich 1969 mit dem Studium anfing, bekam er den Nobelpreis für Medizin. Er ist damals von Kalifornien über Köln nach Stockholm geflogen, hat in Köln ein Seminar gemacht und anschließend abends Leute eingeladen. Ich war dabei und sah einen Nobelpreisträger aus zwanzig Metern Entfernung. Damals war ich 22, also noch sehr jung. Alle schwärmten herum, und plötzlich sagte einer von den Leuten, man könnte bei Delbrück auch promovieren. Ich habe alles daran gesetzt, dass das klappt, und plötzlich war ich Doktorand bei Delbrück. Bei ihm habe ich Biophysik gelernt. Er ist dann ja sehr bald gestorben, und vor seinem Tod hat er mich noch gebeten, seine Biographie zu schreiben. So bin ich zur Wissenschaftsgeschichte gekommen. Ich erzähle also über Wissenschaft.
Media-Mania.de: Das ist schon interessant, wie ein so junger Physiker beziehungsweise Biophysiker zur Wissenschaftsgeschichte kommt …Ernst Peter Fischer: Ja, man hat promoviert, und dann versucht man sich zu habilitieren, damit war ich drei Jahre beschäftigt. Da starb Delbrück und äußerte, wie gesagt, vorher den Wunsch, dass ich seine Biographie schreibe. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat damals freundlicherweise ein Stipendium dafür zur Verfügung gestellt. So habe ich ein Buch geschrieben über das Leben meines Doktorvaters. Die Fakultät hat mich ermutigt, das weiter zu machen, und ich habe mich mit Wissenschaftsgeschichte habilitiert, obwohl ich das nie studiert habe, aber plötzlich war ich Privatdozent für Wissenschaftsgeschichte. Ich habe immer mehr Spaß am Erzählen gefunden, und seitdem schreibe ich Bücher.
Media-Mania.de: Ich wollte eigentlich den Sohn von Bekannten zur Buchmesse mitbringen, leider hat es kurzfristig nicht geklappt. Er geht in die fünfte Klasse und ist bereits ein wenig vom Unterricht im Fach "NaWi" (Naturwissenschaften) gezeichnet. Was würden Sie ihm auf den Weg geben?Ernst Peter Fischer: Persönlich würde ich die Kinder immer zu einem Spaziergang mitnehmen. Wir haben ja lange am Bodensee gewohnt, da geht man einfach den Uferweg entlang. Man kann die Wellen sehen, die Wolken, man wirft einen Stein ins Wasser und sieht die Wellenbewegung, man kann den Stein aus dem Wasser nehmen, und er hat eine andere Farbe, als wenn er trocken ist. Da fangen die Kinder schon an zu fragen. Man muss ihnen nur Hinweise geben. Wenn sie Lust bekommen haben, lade ich sie zum Nachtspaziergang ein. Dann frage ich sie, ob sie wüssten, wo die Mondphasen herkommen – nicht dass ich genaue Erklärungen der Mondphasen verlange, aber wer das Licht ein- und aussendet.
Wenn wir beim Licht sind, kann ich fragen, woher die Sonne ihr Licht hat, wie Licht überhaupt entsteht, auch, wenn sie zum Beispiel eine Glühbirne einschalten. Und die fragen ja zurück. Man muss nur irgendwo mit einer Beobachtung anfangen. Man kann am Tisch sitzen und ein Buch aufschlagen, aber das Beste ist einfach ein Spaziergang. Wenn die Kinder sich für Sport interessieren, fangen Sie mit Fußball an. Die Geräusche, wenn einer gegen den Ball tritt – wenn Sie auf der Tribüne sitzen, können Sie genau beobachten, dass es länger dauert, bis Sie es hören, als Sie es sehen können. Auch der Startschuss kommt etwas später. Und wenn wir bei Schall- und Lichtwellen sind, gehe ich mit den Kindern zu einem Busch, stelle mich hinter den Busch und sage: Ihr könnt mich nicht mehr sehen, aber noch hören. Wie kommt das eigentlich?
Als Nächstes kommt dann Folgendes – hierzu braucht es Nebel, oder Sie stellen sich eine heiße Duschkabine vor: Sie sagen zu den Kindern, schaut mal, wir können durch den Nebel gehen, aber das Licht kommt nicht durch den Nebel. Dafür kommt das Licht aber durch Glas und ihr nicht. Wie kommt das eigentlich? Da fangen die an zu denken. Die richtigen Antworten sind schwierig, aber die kommen dann schon mit Antworten, und auf diese Antworten muss man dann wieder eingehen. Die Grundhaltung dabei ist immer die: Es gibt nicht nur eine, sondern viele richtige Antworten. Eine Antwort ist dann gut, wenn der Antwortgeber damit zufrieden ist und ihm in dem Moment keine neue Frage einfällt.
Für die Vermittlung von Wissenschaft wäre das Schlagwort Pluralität. Auf die Frage "Was ist Wasser?" gibt es sicher die Antwort H2O, aber auch viele andere. Eine interessante wissenschaftliche Frage ist, ob Wasser ein Element ist oder nicht. Früher, in der Antike, war es ein Element. Heute sagen wir, es ist kein Element mehr, sondern ein Molekül aus Wasserstoff und Sauerstoff, die sich verbunden haben. Aber wenn sie ins Wasser springen, reden sie vom nassen Element. Wieso werden wir das Gefühl nicht los, dass Wasser ein Element ist? Das hat mit Kenntnissen von H2O und Bindungsstärken nichts zu tun, sondern damit, wie Sie sich einer Realität nähern, die Ihnen Freude macht, wenn Sie etwas darüber wissen wollen.
Wenn Sie aber nichts wissen wollen, kann ich auch nichts machen. Da ist Einstein gnadenlos, der gesagt hat: "Wer keine Fragen stellt, der ist tot." Diese Leute gibt es auch. Wir können nicht damit rechnen, dass sieben Milliarden Leute wissen wollen, was Wasser ist, aber vielleicht … zwei Milliarden? Da wir es nicht genau wissen, können wir nur darüber reden, und wenn Leute darüber reden, nennt man das ein Bildungsgespräch. Bildung ist nur im Gespräch möglich, nicht mit lexikalischem Abfragen. Die Moderatoren im Fernsehen und die Schullehrer tun immer so, als ob es anders wäre, aber das ist nicht richtig, es gibt immer noch eine andere Erklärungsmöglichkeit. Sie können das Fallen des Steins mit der Schwerkraft erklären, aber es könnte ja sein, dass Aristoteles recht hat und Objekte den Wunsch haben, zu fallen. Denn wenn Sie müde sind, haben Sie ja den Wunsch, ins Bett zu fallen, und da präsentiert sich die Schwerkraft nur als Hilfestellung, aber nicht als eigentliches Ereignis.
Sie verstehen die Natur als Mensch und nicht als Maschine; der Computer versteht nur Schwerkraft, Kinder verstehen durchaus diese Lust, sich fallen zu lassen. Mit Kindern spreche ich gern über das Fliegen. Ich sage ihnen: Ihr könnt fliegen – nicht in der Luft, aber im Wasser, ihr nennt das nur Schwimmen. Der Vogel macht dasselbe in der Luft. Für die Luft bräuchten sie größere Flügel, aber dann reichen die Muckis nicht, oder die Knochen sind zu schwer. Die Kinder fangen beim Schwimmen an zu überlegen, was sie da machen. Sie kommen dann schon mit Fragen, man muss gar nicht selbst fragen. Und man kann ruhig sagen: keine Ahnung. Man muss nicht alles wissen. Die lachen sich dann kaputt: Der weiß das nicht!
Im Kindergarten wurde mal gefragt, was die Eltern und Großeltern beruflich machen, und mein Enkel sagte: "Mein Opa ist Professor - Wissenschaftler." Da haben die Kinder gesagt: "Oh, dann weiß der ja alles." Sagt mein Enkel: "Nein, der weiß gar nichts, der weiß nicht mal, wo Bayern München morgen spielt. Aber der erklärt alles. Und der kommt auch hierher." Also bin ich hingegangen, und da haben die mich alles Mögliche gefragt, vor allem zum Fliegen. Das interessiert die alle. Der Kindergarten ist neben einem Krankenhaus, wo auch der Rettungshubschrauber ein-, zweimal am Tag landet. Ich habe gefragt, warum der Hubschrauber senkrecht hochfliegen kann und ein Flugzeug nicht. Man muss sie überlegen lassen – die haben tolle Ideen. Auf die Frage "Warum fallen Gegenstände nach unten?" kam die Antwort: "Weil die, die nach oben fallen, schon weg sind." Ich habe sie nachsehen lassen, ob zu Hause noch welche an der Decke hängen, und sie haben natürlich keine gefunden. Aber irgendwann kommen sie auf Luftballons und können überlegen, warum die aufsteigen – aber nicht alle. Dann sind wir beim Auftrieb. Wenn ich einen Ball ins Wasser tunke, springt der auf. Sie müssen den Kindern nicht Gesetze erklären, sondern nur Phänomene auf den Punkt bringen, dann denken sie darüber nach. Sie finden ihre Erklärungen. Wie gesagt, es ist meine Grundhaltung, dass es für jedes Phänomen viele richtige Erklärungen gibt: die kindgerechten, die technisch richtigen, die hochkomplizierten ganz wahren … Die Erklärungen, die wir geben, sind an einen ganz bestimmten Zweck angepasst und müssen zufrieden stellen, aber es gibt viele Erklärungen. Ich glaube, wir müssen einfach annehmen, dass die Naturwissenschaften die Welt verschönern.
Media-Mania.de: Ganz herzlichen Dank für dieses spannende Gespräch und alles Gute!Rezension zum Buch bei Media-Mania.de
Website von Ernst Peter Fischer