Media-Mania.de

Im Gespräch mit Hamed Abdel-Samad über sein Buch "Der Untergang der islamischen Welt - Eine Prognose"
Interview mit Hamed Abdel-Samad
Media-Mania.de: Herr Abdel-Samad, Sie kamen als junger Mann zum Studium aus Ägypten nach Deutschland und begannen dort erst einmal den Westen zu hassen. Wie entstand dieser Hass?

Hamed Abdel-Samad: Durch die ägyptischen Schulbücher, die uns das Bild vermitteln, dass der Westen in Gestalt von Kreuzzüglern oder Kolonialherren zu uns gekommen ist, um uns unsere Ressourcen zu nehmen und unsere Kultur und unsere Heiligtümer zu zerstören.

Media-Mania.de: Heute äußern Sie sich kritisch über den Islam. Wie kam es zur Wende?

Hamed Abdel-Samad: Vernunft! – Wenn man ein Zwangssystem verlässt, wenn man Kant und Spinoza liest, lernt man, kritisch mit sich selbst und der eigenen Kultur umzugehen. Und dann versucht man, das umzusetzen, indem man die Gedanken, die man hier gelernt hat, wieder zurückexportiert.
Ich habe gemerkt, dass es hier in Europa immer in die andere Richtung geht; viele Immigranten importieren die Gedanken aus ihren Heimatländern, frieren das hier ein und nennen es Identität. Ich habe versucht, es umgekehrt zu machen, indem ich das, was ich hier gelernt habe, auf Arabisch zurück in die islamische Welt transportiert habe.

Media-Mania.de: Eine solche geistige Wende, wie Sie sie vollzogen haben, ist natürlich nicht einfach zu bewältigen. Gab es einen Auslöser, oder handelte es sich um einen allmählich stattfindenden Prozess?

Hamed Abdel-Samad: Es gab mehrere Auslöser, aber es war auch ein allmählicher Prozess, in dessen Verlauf ich gelernt habe, dass das Beharren auf der religiösen oder moralischen Überlegenheit mir persönlich und auch der islamischen Welt schadet; dass diese geistige Stagnation, diese Erstarrung auch darin zu begründen ist, dass man nicht aufnahmefähig ist für Kritik, für das Wissen anderer. Ich glaube, das ist im Moment die Achillesferse der islamischen Welt: die Integrationsfähigkeit für das Wissen anderer. Denn keine Kultur kann sich entwickeln, ohne sich für das Wissen anderer zu öffnen.
Im Mittelalter ist es der islamischen Welt gelungen, sich für das griechische und das persische Wissen zu öffnen, und damals war sie führend in der Wissenschaft und in der Philosophie. Seit sie sich davon distanziert hat – seit tausend Jahren geschieht dieser Prozess -, hat sie der Welt nichts mehr anzubieten.

Media-Mania.de: Hierauf würde ich gern noch näher eingehen. Die islamischen Gelehrten haben der kulturellen Entwicklung in der Welt im Mittelalter unersetzliche Dienste erwiesen, unter anderem als Bewahrer antiken griechischen Gedankengutes, aber auch in der Medizin, in der Geographie, der Mathematik und der Alchemie. Wie konnte es geschehen, dass auf diese Blüte in der islamischen Welt ein seit Jahrhunderten währender Stillstand, eine Abschottung folgte? Lag es allein an den Kreuzzügen?

Hamed Abdel-Samad: Es gab zunächst die Kreuzzüge und danach den Einfall der Mongolen in Bagdad; die Bibliothek von Bagdad wurde zerstört. Aber Kriege gehörten immer zur Geschichte, Krieg allein kann eine Kultur nicht zerstören. Eine Kultur frisst sich zuerst von innen, entmachtet sich selbst innerlich, bevor sie von außen entmachtet werden kann.
Alles begann, indem die islamische Welt mehr auf religiöses Lernen als auf weltliches Wissen gesetzt hat. Die Schulen beschäftigten sich mehr und mehr mit der Religion, weil die Herrschenden in der Religion auch eine Möglichkeit zur Festigung ihrer Macht sahen. Das freie Denken, die Philosophie hat bei manchen Herrschern für Unruhe gesorgt, denn wenn das Volk frei denkt, stellt es natürlich auch die Legitimität des Herrschers infrage. Zunehmend waren die Herrscher nicht mehr daran interessiert, weltliches Wissen zu unterrichten, sondern Indoktrinierung und eine gefälschte Geschichte.

Media-Mania.de: Der Titel ihres soeben erschienen Buches, "Der Untergang der islamischen Welt", spielt auf Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes" an. Wie Sie schreiben, deckt die starke religiöse Fixierung der Menschen aus dem islamischen Kulturkreis sowohl in ihren ursprünglichen Heimatländern als auch im Westen nur eine Schwäche, die die Auflösung dieser Kultur ankündigt. Der Westen hingegen erlebt die islamische Kultur als stark, selbstbewusst, durchaus aggressiv und nicht zuletzt von einem beträchtlichen Bevölkerungswachstum getragen. Schwer zu glauben, dass hier ein Untergang stattfinden soll.

Hamed Abdel-Samad: Es gibt zwei Prozesse, die parallel verlaufen: der Prozess des Verfalls des Islams als Kultur und der Prozess des Aufstiegs des Islamismus als eine wütende Antwort darauf. Und diese beiden Prozesse verwechselt man hier im Westen. Man denkt, der Islam ist auf dem Vormarsch. Nein, der Islamismus ist auf dem Vormarsch, weil der Islam der Welt nichts mehr zu bieten hat, weil er keine konstruktiven Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts hat, keine Handlungsoptionen, keine zukunftsfähige Wirtschaft und Politik anbieten kann; die Menschen werden nervös und beharren auf der Religion, weil sie das Letzte ist, was ihnen bleibt. Genau das nehmen wir wahr. Diese Re-Islamisierung bedeutet nicht, dass die Menschen gläubiger geworden sind – es gibt einen Unterschied zwischen "gläubig" und "religiös" -, sondern sie übermalen ein Haus, das kurz davor steht, in sich zusammenzubrechen. Sie wollen nicht zugeben, dass sie am Ende sind, der Welt nichts mehr anbieten können. Deshalb verbarrikadieren sie sich hinter Wut und Beleidigtsein.

Media-Mania.de: Das folgende Thema hatten Sie schon kurz angeschnitten: Unter anderem gehen Sie in Ihrem Buch darauf ein, dass der Westen mit Schuld trägt an der religiösen Fanatisierung. Er stützt scheinbar stabile Diktaturen in islamischen Ländern, deren Stärke jedoch vor allem darauf basiert, dass die Bevölkerung keine echte Bildung erhält, sondern lediglich auf die Religion und über diese auf das Regime eingeschworen wird. Welche weiteren Fehler macht der Westen den vom Islam geprägten Staaten gegenüber?

Hamed Abdel-Samad: Ich habe mich auf diesen Fehler des Westens begrenzt, denn das Buch sollte eine selbstkritische Darstellung der Problematik sein. Die Muslime machen ständig den Westen für alles verantwortlich, und davon wollte ich mich distanzieren; die Muslime sehen den Westen auf dem Vormarsch, es ist ein gegenseitiges Spiel, und dieses Spiel wollte ich nicht mitmachen.
Was ich dem Westen allerdings vorwerfe, ist in der Tat die Unterstützung dieser Diktaturen in der Hoffnung, dass dort dann Stabilität herrscht, aber es herrscht keine Stabilität, sondern es brodelt unter der Oberfläche. Vor wenigen Wochen gab es ein Waffengeschäft zwischen Saudi-Arabien und den USA über 70 Milliarden Dollar. Nun, das schafft 750.000 Arbeitsplätze in Amerika, es hilft der Konjunktur auf die Sprünge, aber was ist das Ergebnis? Wer sind die Leidtragenden? Es sind die Menschen, die für Demokratie in Saudi-Arabien kämpfen. Die gibt es, aber Sie kennen sie nicht. Warum? Weil der Westen nicht an ihnen interessiert ist.
Der Westen hat eine strategische Ungeduld mit der islamischen Welt und macht kurzfristige Geschäfte mit Diktaturen. Man stützt ihre Macht, aber wissen Sie, was diese Diktaturen machen? Sie unterrichten in ihren Schulbüchern Hass gegen den Westen. Und so beschäftigen sich die jungen Leute mit Feinden, die sie hassen, die sie aber nicht erfassen können – "der Westen ist an allem schuld" und so weiter. Das also vermitteln diese Diktaturen, und diese Waffen, gegen wen werden sie sich richten? Erst mal gegen die eigene Bevölkerung, damit jeder "die Schnauze hält", und später werden sich diese Waffen auch umdrehen und gegen den Westen gewendet werden, wie es in Afghanistan und im Irak der Fall war. Man hat die Mudschaheddin, die Taliban unterstützt, und nun kämpfen sie gegen den Westen und töten deutsche Soldaten. Man hat Saddam Hussein unterstützt, um einen Ausgleich zum Iran zu haben, und dann haben sich diese Waffen gedreht und westliche Soldaten ermordet.
Man braucht kein Prophet zu sein, um zu wissen, dass das Gleiche auch mit Saudi-Arabien passieren wird.

Media-Mania.de: Und man muss auch kein Prophet sein, um zu erkennen, dass die ganze scheinbare Stabilität spätestens dann am Ende sein wird, wenn die Ölvorkommen knapp werden. Das schreiben Sie ja auch.

Hamed Abdel-Samad: Genau. Diese geistige Erstarrung führt auch zu einer materiellen Erstarrung. Die islamische Welt lebt seit Generationen von Naturressourcen: Erdöl, Agrarwirtschaft, Badestrände. Dafür hat man selber nichts getan, das kommt sozusagen von der Erde. Die Welt lebt heute aber vom Kopf, vom Wissen. Eine Gesellschaft, die in diesem Zeitalter der Globalisierung ihre Existenz sichern will, muss zum Wissen hin wechseln. Mehr Wissen, mehr High-Tech, um eine kreative Wirtschaft zu ermöglichen.
In dreißig Jahren gibt es kein Erdöl mehr, zu dieser Zeit haben wir auch drastische Veränderungen, was den Klimawandel angeht, weshalb die meisten Badestrände hitzebedingt unbrauchbar sein werden, und die Anbauflächen verschwinden – dies beginnt heute schon in Ägypten und im Sudan Wirklichkeit zu werden. Die Wüsten wachsen, aber auch die Zahl der Menschen wächst. Wie will man das alles bewältigen, wenn man solch eine hasserfüllte, rückständige Bildung hat? Hier setzt auch meine Prophezeiung an, das ist keine Kaffeesatzleserei, sondern die logische Konsequenz aus einer verfehlten Bildungs- und Wirtschaftspolitik und fehlenden Reformen des Islams.

Media-Mania.de: Ich habe zwar in den Koran hineingelesen, eine Islamkennerin bin ich jedoch nicht. Trotzdem spielt meines Wissens das Kismet, der Glaube an Vorherbestimmung, im Islam eine wichtige Rolle. Steht das Kismet den Reformen im Weg?

Hamed Abdel-Samad: Selbstverständlich. Diese Geisteshandlung nährt sich auch vom Fatalismus: Gott bestimmt es so, weshalb man auch kaum Gestaltungsmöglichkeiten hat. Dies gibt es in mehreren Religionen; außer im Islam findet man ähnliche Tendenzen auch im Hinduismus und Buddhismus – Karma und so weiter.
Heute im 21. Jahrhundert muss man erstens erkennen, dass die Gesetze nicht von Gott kommen, sondern von Menschen geschaffen wurden, zweitens, dass der Mensch durch sein Handeln selbst für sein Schicksal verantwortlich ist und nicht durch Vorherbestimmung determiniert wird, und drittens, dass Bildung das Rückgrat von jedem Entwicklungsprozess darstellt. Eine Kultur, die das verschläft, hat es einfach nicht verdient, zu überleben.

Media-Mania.de: Harte Worte! - Immer, wenn Thilo Sarrazin sich kritisch zur Integration von Muslimen in Deutschland äußerte, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Medien. Gleichzeitig fand Sarrazin auch viele Anhänger, und es kam zu heftigen, aber meist unergiebigen Auseinandersetzungen. Als Ihr Buch erschien, war eine solche Reaktion nicht zu beobachten, obwohl Sie im Grunde noch viel weiter gehen und der gesamten islamischen Welt ein verheerendes Zeugnis ausstellen. Erleben Sie als Deutsch-Ägypter einfach eine sachlichere Diskussion? Oder ist Ihr Buch zu anspruchsvoll für die "Pro-Sarrazin-Fraktion" und allzu politisch unkorrekt für Sarrazin-Gegner und findet deshalb weniger Echo?

Hamed Abdel-Samad: Die Menschen brauchen immer einfache Rezepte und einfache Beschreibungen der Situation. Das ist ja das Geheimnis des Erfolgs vieler Bücher, dass sie die Welt ganz einfach erklären und einfache, pragmatische Lösungen vorgeben, aber diese Lösungen sind nicht tauglich, denn die Phänomene sind viel komplizierter. Ich habe mich mit der Ambivalenz, mit der Komplexität des Islams auseinandergesetzt und versucht, diese zu analysieren. Mein Buch ist in einer sehr einfachen Sprache geschrieben, es ist nicht anspruchsvoll, aber man muss mitdenken und über sich selbst reflektieren. Die Welt ist viel komplizierter als "Guter Westen, böser Islam". Sie enthält eine Verflechtung aus vielen Phänomenen und Geschichtsverständnissen; Bildung und Wirtschaft spielen mit hinein. Die Menschen fühlen sich damit überfordert, sie brauchen Placebo-Pillen, die ihnen das Gefühl geben, dass ihnen jemand die Welt erklärt. Ich bin kein Welterklärer, ich bin ein Denker.

Media-Mania.de: Zum Thema "Frauen", aber auch "Reformen allgemein" – in Ihrem Buch setzen Sie sich massiv für die Gleichstellung der Frauen ein, die in den vom Islam geprägten Kulturen völlig fehlt, und nennen auch ein erschütterndes Beispiel aus Ihrer eigenen Familie. Allerdings gibt es das Frauenwahlrecht in Deutschland erst seit 1919, bis 1977 konnten verheiratete Frauen laut BGB nur mit Erlaubnis ihres Ehemannes arbeiten gehen, bis 1958 durfte der Ehemann das Arbeitsverhältnis seiner Frau fristlos kündigen und über ihr Vermögen und ihre Einkünfte verfügen. Braucht der Islam einfach mehr Zeit, um diese und andere positive moderne Entwicklungen, von denen er ja aufgrund der Globalisierung regelrecht überrollt wird, nachzuvollziehen? – Schließlich fehlen ihm sozusagen dreihundert Jahre Aufklärung.

Hamed Abdel-Samad: Der Islam hat keine Zeit mehr, wir haben keine dreihundert Jahre mehr. Außerdem reicht Zeit allein nicht aus. Vor neunzig, hundert Jahren gab es eine Frauenbewegung in der islamischen Welt. Wenn Sie vor vierzig Jahren durch Kabul, Kairo oder Teheran gelaufen wären, hätten sie kaum eine Frau mit Kopftuch gesehen; heute sind sie fast alle uniformiert. Das bedeutet, es dreht sich alles im Kreis und geht nicht weiter. Deshalb interessiert mich nicht, wie lange Europa für die Aufklärung, für die Öffnung gebraucht hat, sondern, wie viel Zeit wir noch haben und was wir tun können.
Es wird auch oft das Argument genutzt, dass Frauen in China und Indien ebenfalls unterdrückt werden, aber darum sollen sich die Chinesen und Inder kümmern. Ich bin zufälligerweise Moslem und kümmere mich um die Missstände in der islamischen Welt. Diese Zustände werden sich nicht ändern, wenn wir schauen, wo es auch nicht funktioniert, sondern indem wir dorthin sehen, wo es läuft, überlegen, warum es dort klappt, und uns etwa Europa als Beispiel nehmen.
Zunächst gab es eine industrielle und wissenschaftliche Revolution und gute Bildung, die den Weg dazu ebneten, dass Frauen selbstständiger und Teil der Wirtschaft, der Gesellschaft und Kultur wurden und daher auch um ihre Freiheit kämpften. Deshalb: Bildung, Bildung, Bildung!

Media-Mania.de: Es war ja der Erste Weltkrieg, der in Europa die Emanzipation stark vorantrieb, denn während die Männer kämpften, hielten die Frauen die Industrie am Laufen und bestellten die Felder. Wie kann denn da ein Umdenkungsprozess in Gang gesetzt werden, der zu mehr Bildung führt? Es sind schließlich vor allem die Frauen selbst, die die Beschneidung und das Kopftuch – als Beispiele – wollen.

Hamed Abdel-Samad: Die Menschen müssen sich selbst aus diesem System befreien, und Männer und Frauen sollten miteinander verhandeln über ihre Rollen und nicht sagen: "Weil es der Prophet vor 1.400 Jahren so sah, müssen wir auch heute so leben." Nein, es gehört zur modernen Welt, sich von diesen alten Lebensformen zu befreien, ohne gegen den Koran und gegen den Propheten Mohammed zu polemisieren. Es ist auch unfair, sie aus der Sicht des 21. Jahrhunderts zu bewerten. Aber umgekehrt dürfen sie mit ihren Gedanken des 7. Jahrhunderts uns auch nicht im 21. Jahrhundert prägen.

Media-Mania.de: In diesem Zusammenhang bringe ich eine Frage an, die man Ihnen, glaube ich, in jedem Interview stellt: Sind Sie gläubig?

Hamed Abdel-Samad: Es gibt einen Unterschied zwischen Glauben und Religion, und ich glaube, dass die Religion den Glauben vergiftet.

Media-Mania.de: Eine weise Antwort. - In einem Interview sagten Sie: "Mein Traum ist in der Tat ein aufgeklärter Islam, ohne Scharia und Dschihad, ohne Geschlechter-Apartheid, Missionierung und Anspruchsmentalität. Eine Religion, die sich jeder Kritik und Nachfrage stellt." Was bliebe übrig – was ist der durch die von Ihnen genannten Missstände verdunkelte leuchtende Kern des Islam?

Hamed Abdel-Samad: Was übrig bleibt, ist der muslimische Glaube. Aber die muslimische Religion kann nicht in dieser Form bestehen bleiben. Was ist der Unterschied? Glaube bedeutet die Fähigkeit zum Gottvertrauen. Religion bedeutet Machtstrukturen, bedeutet politische und juristische Ansprüche. Und der Islam hat beide Seiten: die Seite des Glaubens, die spirituelle Seite, die ich achte, er hat aber diese politisch-juristische Seite, die im 7. Jahrhundert entstanden ist für ganz andere Bedürfnisse, für eine ganz andere Gemeinde als heute. Und davon müssen wir uns verabschieden ohne Polemik und ohne Hass. Es ist im 21. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß. Inzwischen haben wir uns darauf geeinigt, dass die Gesetze nicht von Gott offenbart werden, sondern durch Menschen – durch Verhandeln, durch Konsens – entstehen; und dass die Moral verhandelbar, flexibel ist.
Und so sind auch Identitäten nicht geschlossene Gebäude, sondern elastische Gebilde, die integrationsfähig sind für andere Identitäten, andere Sprachen, anderes Wissen.
Es gibt zwei Prinzipien, die das Leben seit seiner Entstehung immer bestimmt haben: Vielfalt und Flexibilität. Wer gegen diese beiden Prinzipien verstößt, stirbt aus. Das wissen wir aus der Evolution.

Media-Mania.de: Ihr erstes Buch, "Mein Abschied vom Himmel", brachte Ihnen in Ägypten eine Fatwa ein, also ein religiöses Rechtsgutachten, das Sie praktisch für vogelfrei erklärt. Auch wenn Sie seit 15 Jahren in Deutschland leben und einen deutschen Pass haben, sind Sie Ägypten sicher noch stark verbunden. Was empfanden Sie, als die Fatwa gegen Sie ausgesprochen wurde?

Hamed Abdel-Samad: Es ist natürlich traurig, wenn man mit dem Angebot des Denkens kommt, nur mit Worten – ich habe niemanden mit einem Stein erschlagen – und mit einer solchen Einschüchterung reagiert wird. Gut, Fatwa ist ja kein direktes Todesurteil, sondern man will damit ausdrücken, dass dieses Buch gegen die Scharia verstößt und gotteslästerlich ist. Die Konsequenzen kennen wir, aber das hält mich nicht davon ab, weiterhin zu schreiben. Das zweite Buch ist ebenfalls auf Arabisch erschienen, und ich fliege nächste Woche nach Ägypten, um es auch dort zu präsentieren. Sonst macht das Ganze keinen Sinn: Ich kritisiere ja muslimische Islamkritiker, die es sich hier in Europa gemütlich machen, nur auf Deutsch oder Französisch schreiben und Applaus von Europa bekommen, die aber in der islamischen Welt niemand kennt. Die schreiben dann über Reformen, aber die Diskurse werden nicht dort geführt, wo sie am nötigsten sind.
Ich wollte etwas dagegen tun, und dann muss man so etwas auch hinnehmen. Natürlich kann es irgendwann ganz schlimm ausgehen, aber trotzdem finde ich, man sollte immer im Dialog mit den Menschen bleiben und den Respekt bewahren: Ich kritisiere, auch hart, aber immer mit Respekt.

Media-Mania.de: Die Möglichkeiten Deutschlands, in den islamisch geprägten Ländern eine Öffnung und Modernisierung zu bewirken, sind vermutlich gering. Was können wir, Nicht-Muslime und Muslime, in Deutschland tun, damit Integration nicht ein Reizwort und eine unerfüllte Aufgabe bleibt und wir uns zu einer zwar heterogenen, aber funktionierenden Gesellschaft ohne gegenseitiges Misstrauen und schädliche Vorurteile entwickeln können?

Hamed Abdel-Samad: Vielleicht sollte man den Begriff "Integration" erst einmal umbenennen. Ich schlage vor, es "leben und leben lassen" zu nennen. Das Wort ist mittlerweile so belastet, kein Mensch kann es mehr hören. Und viele Migranten verstehen nicht einmal, was damit gemeint ist.
Ich glaube nicht an Gruppenintegration, sondern an individuelle Integration - dass ein Mensch für sich beschließt: Ich möchte Teil dieses Landes werden und alles tun, um das zu erreichen; ich nehme die vorhandenen Angebote an. Oder Eltern treffen die Entscheidung für ihre Kinder, damit diese keine geistige Mauer zwischen sich und der Gesellschaft errichten. Natürlich muss das Bildungssystem flexibler werden und auch auf diese Bedürfnisse eingehen, aber man irrt sich gewaltig, wenn man annimmt, dass man eine gesamte Gruppe durch Konzepte und Programme integrieren kann: Es ist eine persönliche Entscheidung, und so wird es auch in der Zukunft sein.
Ich bin nicht integriert worden. Viele hier lebende junge Türken und Araber, die es geschafft haben, haben es aus eigener Kraft erreicht oder mit Hilfe ihrer Eltern, und wenn die Eltern die Bildung und nicht die Religion als das höchste Gut erachten, dann ändert sich etwas.

Media-Mania.de: Und was kann hier in Deutschland der Einzelne tun? Es gibt natürlich Vorurteile, die kennt jeder selbst: Da möchte ich vielleicht eine Frau mit Kopftuch ansprechen, um zum Beispiel eine Auskunft zu erbitten, und denke aber, sie versteht mich sowieso nicht. Oder habe das Gefühl, ich würde mich aufdrängen. Also auch Berührungsängste.

Hamed Abdel-Samad: Was man als Deutscher natürlich machen kann, ist, sich erst einmal von diesen Bildern zu befreien. Muslime haben falsche Bilder vom Westen, und der Westen hat auch falsche Bilder von Muslimen. Auf dieser Basis sollte man Begegnungen suchen: Begegnung ist stärker als Erfahrung. Das hat Martin Buber gesagt. Wenn ich meine Hand über diesen Tisch ziehe, ist das eine Erfahrung, ich weiß, wie es sich anfühlt, aber es geht nicht in die Tiefe. Begegnung bedeutet, ich habe begriffen, ich habe es erfasst, ich kenne die Geschichte dieses Tisches – als Beispiel. Meistens sammeln wir nur flüchtige Erfahrungen, die die Vorurteile bestätigen, aber der Mensch ist vielschichtiger und nicht nur Muslim oder Deutscher. Man sollte den Mut haben, auf andere Menschen zuzugehen und die Begegnung zu suchen. Manchmal klappt es, manchmal ist es peinlich, manchmal läuft es nicht gut, aber es lohnt sich, und dadurch ist man auch ein Stück entspannter.
Natürlich kommt es vor, dass das Kopftuch ein Zwangssymbol und ein politisches Symbol ist, aber es gibt auch Fälle, in denen sich die Frau aus freien Stücken dazu entscheidet. Die Gesellschaft muss differenzieren können, und die Lösung kann nicht sein, jede Frau, die ein Kopftuch trägt, vor den Kopf zu stoßen. Denn das führt zu mehr Isolation und Abschottung.
Deutschland hat mehrere Probleme. Integration ist nur ein Symptom, und man denkt, es ist das Hauptproblem, und unsere Zukunft hängt davon ab. Das denkt auch Sarrazin, und deshalb ist er so erfolgreich. Nein, es gibt andere Probleme in diesem Land: wie der Sozialstaat und das Bildungssystem organisiert werden, was man unter Identität versteht – und zwar von muslimischer und von deutscher Seite. So bedeutet in Deutschland für viele immer noch Blut und Boden und Geschichte. Bei Muslimen ist es hauptsächlich die Religion.
Aber Identität geht tiefer, und wir müssen kreative Identitätskonzepte entwickeln, Programme, damit diese Gesellschaft zukunftsfähig wird. Wenn man nur polarisiert und Muslime auf ihrer Religion beharren und Deutsche auf Blut, Boden und Geschichte, dann kommen wir nie zusammen.
Ich bin vor fünfzehn Jahren nach Deutschland gekommen, ein Freund von mir ging nach Amerika. Fünf Jahre später war er Amerikaner und hatte die amerikanische Flagge auf seinem Balkon, auch wenn er nach wie vor Ägypter und Muslim war. Gleichzeitig saß ich hier mit ein paar arabischen Studenten und schimpfte über Deutschland. Das muss auch damit zu tun haben, dass die Gesellschaft hier nicht aufnahmefähig ist. Langsam verändert sich das, und das ist gut. Es ist auch sehr gut, dass wir in der Nationalmannschaft einen Özil, Kuranyi, Boateng und Khedira haben. Die Gesellschaft könnte sich nach diesem Modell entwickeln, aber wir sind noch nicht so weit wie die Nationalmannschaft.
Aber die Gesellschaft kann sich nicht zurückentwickeln zum 19. Jahrhundert und zum romantischen Bild von Sarrazin mit seinen Enkeln, die in hundert Jahren da sitzen und Goethe lesen ohne Muslime um sich. Das gibt es nicht. Vielfalt und Flexibilität: wer gegen sie verstößt, stirbt aus. Dies gilt für die islamische Welt, aber auch für Deutschland.

Media-Mania.de: Ein gutes Schlusswort! Im Namen von Media-Mania.de bedanke ich mich herzlich für das Interview.

Hamed Abdel-Samad: Ich bedanke mich auch.

Media-Mania.de: Und wir sind gespannt auf Ihr nächstes Buch.

Hamed Abdel-Samad: Es ist über den 11. September.

Media-Mania.de: Oh, da darf man aber wirklich gespannt sein. Viel Erfolg in Ägypten und alles Gute!

Das Interview wurde am 08.10.2010 auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Droemer Verlags geführt.

Link zur Rezension des Buchs bei Media-Mania.de
Geführt von Regina Károlyi am 07.10.2010