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Wer kaum lesen kann, hat schlechte Chancen in unserer Gesellschaft, denn Lesen ist ein wichtiger Schlüssel für Bildungsfähigkeit.
Treffender könnte das vorliegende Handbuch gar nicht beginnen. Denn es ist in der Tat so, dass Lesen wohl der Türöffner für ein selbstbestimmtes und wirtschaftlich unabhängiges Leben ist. Neben der Institution Schule gibt es eine Vielzahl an Initiativen wie die "Stiftung Lesen", die sich der Leseförderung verschrieben haben. Unter deren Federführung erschien bereits im Jahre 1999 ein gleichnamiges Handbuch, welches nun in einer völlig neu bearbeiteten Fassung vorliegt.
Der interdisziplinär angelegte Band gliedert sich in vier größere Themenbereiche. Nachdem zunächst unterschiedliche methodische Forschungsansätze dargelegt werden, widmet sich der zweite Abschnitt dem Leseprozess sowie den Lesemedien. Neben dem Verstehensprozess an sich thematisieren hier die Beiträge auch, wie unterschiedliche Medien das Lesen verändern beziehungsweise welche Auswirkungen soziale Beziehungskonstellationen wie die Familie oder das Geschlecht für die Lesemotivation haben. Der dritte Schwerpunkt beschäftigt sich mit den Institutionen und Organisationen des Lesens, genauer gesagt mit den (bildungs-)politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie mit den "Bereitstellungsorganisationen des Lesens", sprich mit Verlagswesen, den Buchhandlungen, Bibliotheken und digitalen Netzwerken. Abgeschlossen wird der Band letztlich durch verschiedene Überlegungen zu "Funktionen und Leistungen des Lesens", indem zunächst die Kulturtechnik einer historischen Rückschau von der Antike bis ins 20. Jahrhundert unterworfen wird, um schließlich beispielhaft einzelne Funktionen des Lesens wie die Identitätskonstruktion in der Gegenwart näher zu beleuchten. Abgerundet wird der Band zudem durch ein Personen- und ein sehr differenziert angelegtes Sachregister.
Die systematische empirische Auseinandersetzung mit dem Lesen in der Schule ist noch relativ jung: Vor allem durch die PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) im Jahr 2000 wurde auf bisherige Defizite aufmerksam gemacht, was eine umfassende Reflexion zur Folge hatte.
Mit der komplett überarbeiteten Neuausgabe des Handbuchs "Lesen" wechseln nicht nur die Herausgeber, sondern auch der Inhalt. Dies hat sowohl einen deutlich größeren Umfang zur Folge - immerhin steigt die Seitenzahl von knapp 700 auf rund 900 Seiten -, sondern auch eine radikale inhaltliche Umstrukturierung. War die Vorgängerausgabe im Grundsatz zwar bereits ebenfalls schon interdisziplinär angelegt, so wird dieser Weg hier nicht nur mit dem Untertitel deutlich eindringlicher eingeschlagen. Eine offenkundige Konsequenz ist dabei, dass mehr Autorinnen und Autoren mitgewirkt haben, um die differenzierten Annäherungen an das Thema Lesen fachkundig zu meistern. Gerade durch viele neue empirische Forschungen ist beispielsweise der Verstehensprozess während des Lesens im Vergleich zum Vorgängerbuch sehr viel präziser ausgearbeitet. Denn während dort unter den Beitragstiteln "Psychologie des Lesens" und "Neurobiologie des Lesens" auf weniger als 100 Seiten die unterschiedlichsten Themen vermengt wurden, finden sich nun auf gut 150 Seiten einzelne Beiträge zum neurologischen Prozess, zur Sprachverarbeitung, zum Leseprozess als Sinnkonstruktion sowie zum "Leseverstehen komplexer Texte". Hinzu kommen Ausführungen zum Zusammenhang von Leseverstehen und Schreibstrategien beziehungsweise typografischen Elementen. Über den gesamten Band hinweg kann zudem eine deutlich stärkere Berücksichtigung der Lesens in digitalisierten Zusammenhängen beobachtet werden. Auch historische Entwicklungen werden immer wieder - und darin unterscheidet sich der Band nur marginal von seinem "Erstling" - angesprochen oder sind sogar explizit das Thema einzelner Beiträge.
Inferenzen stellen zweifellos den Kernprozess zinnorientierten Lesens dar und werden deshalb in sämtlichen in der Literatur entwickelten Modellen des Lesens berücksichtigt.
Obwohl somit also das Thema "Lesen" sehr breit angegangen wird, kommen manche Themen, zum Beispiel die Vermittlung von Lesestrategien oder besondere Ausformungen des Lesens wie das "Speed Reading", zu kurz oder sind schlichtweg gar nicht berücksichtigt. Bisweilen versteckt sich aber auch so manche Thematik wie das Vorlesen in naheliegenden Themenzusammenhängen wie "Lesen und Familie". Was dem Handbuch an manchen Stellen in jedem Fall fehlt, sind Überblickstabellen oder -grafiken, um beispielsweise Leseprozessmodelle zu veranschaulichen. Hinzu kommt, dass gerade bei der letztgenannten Thematik nicht durchgängig Beispiele im Text angeführt werden, um die zum Teil recht theoretischen Ausführungen auch weniger versierten Lesern greifbar zu machen. Oder um mit der Lesetheorie zu sprechen: In manchen Teilen ist Vorwissen unabdingbar, um den Darstellungen folgen zu können und sinnvolle "Inferenzen", Schlussfolgerungen“, zu ziehen. Nichtsdestotrotz deuten auch solche Passagen Laien an, wie interessant es sein kann, sich einmal zu fragen, was eigentlich während des Lesens passiert. Für all jene, die sich in irgendeiner Weise beruflich mit dem Thema "Lesen" beschäftigen, ist der Band sowieso ein absolutes Muss. Denn nirgendwo finden diese derart gebündelt grundlegende Zusammenhänge und differenzierte Zugänge zum Thema.
Weitere Informationen zum Buch sowie ein Blick ins Inhaltsverzeichnis finden sich auf der Webseite des Verlags.