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Als ab dem Jahr 2015 viele Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland strömten, waren die Kommunen auf diesen gewaltigen Zustrom überhaupt nicht vorbereitet. Doch vor allem sie betraf die Entscheidung, die Geflüchteten ohne Festlegung von "Obergrenzen" ins Land zu lassen: Sie mussten die Menschen angemessen unterbringen, verköstigen, ihnen Sicherheit gewährleisten, die Verwaltungsarbeit bewältigen und sie auf längere Sicht integrieren. Eine Mammutaufgabe für die Städte und Landkreise. Einer von denen, die vor diese Herausforderung gestellt wurden, ist Boris Palmer, der Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen.
In seinem Buch "Wir können nicht allen helfen – Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit" berichtet er von seinen Erfahrungen während der Flüchtlingskrise, zeigt kurzfristige und weiter bestehende Probleme und Folgen auf und stellt Lösungsansätze vor. Sein Buch ist aufgeteilt in die jeweils in mehrere Kapitel untergliederten Abschnitte "Die Herausforderung", "Vor Ort", "Illusionen und Tabus" und "Lösungen", die auf eine kurze Einführung mit dem aussagekräftigen Titel "Oben und unten: Willkommenskultur und Verlustängste" folgen.
Boris Palmer ist keiner, der "Everybody's Darling" sein will. Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen vertritt seine Ansichten, auch wenn sie der Parteilinie und der veröffentlichten Meinung gelegentlich widersprechen. Anfeindungen aus der eigenen Partei und "Shitstorms" in den sozialen Medien sind ihm nicht fremd, seit er im Rahmen der Flüchtlingskrise sinngemäß äußerte, dass nur ein gewisses Maß an Integration machbar und daher nur ein bestimmter Zustrom an Menschen nach Deutschland zu verkraften sei. Zitate wurden aus dem Zusammenhang gerissen, es erfolgte hier und da eine Vereinnahmung durch Kreise, deren Rechtsauffassung, vorsichtig ausgedrückt, eigenwillig ist.
Nun hat Palmer ein Buch verfasst, in dem er seine Standpunkte im Rahmen von Erfahrungsberichten und ausführlichen, mit Fakten unterlegten Betrachtungen darlegt. Als Einführung dient eine Gegenüberstellung der sogenannten Willkommenskultur mit den Verlustängsten breiter Bevölkerungsteile; der erste Teil, "Die Herausforderung", befasst sich mit dem moralischen, dem europa- und dem deutschlandpolitischen Aspekt des Flüchtlingszustroms, der zweite, "Vor Ort", mit ganz konkreten kommunalen und zwischenmenschlichen Problemen. Hierzu gehört die Verwaltung einschließlich der auch aufgrund im Einzelfall oft sinnfreier Verordnungen schwierigen Unterbringung der zugeteilten Flüchtlinge – auch das Verhalten von Besitzern leer stehender Häuser ist ein Thema -, Kriminalität, Veränderungen im bislang typischen städtischen Nachtleben vor allem für Frauen und manch Weiteres schließen sich an.
Als Oberbürgermeister mit engem Kontakt zu den Einwohnern bietet Palmer hier einen Erfahrungsbericht aus erster Hand. Er hütet sich vor Pauschal(ver)urteil(ung)en und Verallgemeinerungen, zeigt die Tücken von Statistiken auf und benennt die Probleme dennoch ganz konkret: kein politikertypisches Lavieren beziehungsweise "Herumeiern".
Dieser Mut, die außerhalb des streng Privaten längst bestehenden Meinungstabus zu brechen, bestimmt auch den Abschnitt "Illusionen und Tabus". Hier geht Palmer auf den öffentlichen Diskurs in Deutschland ein und unterzieht sowohl die Rolle der herkömmlichen als auch der sozialen Medien einer sehr kritischen, sachlichen Analyse. Und der Pragmatiker Palmer wäre nicht er selbst, wenn im abschließenden Teil "Lösungen" nicht diverse umsetzbare Vorschläge kämen, von Erfahrungen aus der kommunalen Praxis untermauert.
Obwohl das Buch brandaktuell mit Entwicklungen bis weit in 2017 herein daherkommt, wirkt es nicht wie mit heißer Nadel gestrickt, sondern sorgfältig konzipiert und ausgearbeitet – nur verlagsseitig wurden ziemlich viele "Dreckfuhler" und Ähnliches verschusselt. Schade. Sonst trübt jedoch nichts die informative, fesselnde Lektüre. Dieses Buch betrifft uns im Grunde alle, gleich, welcher politischen Couleur wir zuneigen. Es bietet wichtige Denkanstöße und Fakten zu einem Thema, das letztlich alle in Deutschland lebenden Menschen angeht oder angehen wird. Unbedingt lesen!
Ein Blick ins Buch ist auf der Verlagsseite möglich.Zum
Interview bei Media-Mania.de