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Malcolm ist ein aufgeweckter Junge, freundlich und durchaus fleißig. Er hilft seinen Eltern in der eigenen Gaststätte, und wenn er noch Zeit hat, erledigt er auch kleine Aufgaben bei den Nonnen eines nahe gelegenen Klosters, wenn er nicht mit seinem geliebten alten Kanu auf der Themse unterwegs ist. Da er auch noch still und höflich ist, bekommt er so einiges mit, was Erwachsene ihm niemals zutrauen würden. Als die Nonnen ein kleines Baby aufnehmen, geschehen in Malcoms Dorf seltsame Dinge und der Junge muss sich bald fragen, auf wessen Seite er steht, denn Lyra, so heißt das Baby, scheint mächtige Feinde zu haben. Als es zu heftigen Regenfällen kommt, tritt der Fluss über die Ufer und die Ereignisse überschlagen sich. Kurz entschlossen greift Malcolm ein, als er das Baby in Gefahr glaubt.
Mehr als zwanzig Jahre sind vergangen, seit der Leser Lyra Belacqua in dem Buch
"Der goldene Kompass" auf dem Weg zum Nordpol begleitet hat. Aufgewachsen in Oxford, war sie trotz ihres jungen Alters bald eine entscheidende Figur im Konflikt zwischen der Kirche und der Wissenschaft und der Leser konnte nicht anders, als mit ihr und ihrem Daemon mitzufiebern. Nun, nach all der Zeit entführt Autor Philip Pullman den Leser wieder in Lyras Welt, doch nicht ihre weitere Lebensgeschichte ist Thema des neuen Buchs, sondern Pullman erklärt, wie es dazu kam, dass Wissenschaftler sich um ein Baby kümmern.
Kann ein Buch wirklich spannend werden, wenn sein Ende bereits so deutlich feststeht? In diesem Fall lautet die Antwort: und ob! Zwar beginnt "Am wilden Fluss" gemächlich und es dauert, bis die Handlung Fahrt aufnimmt, doch dann wird dem Leser keine Atempause mehr gegönnt. Dabei beginnt Malcolms Geschichte trügerisch gemütlich und lässt dem Leser sehr viel Zeit, sich in Lyras Welt wohlzufühlen, bevor langsam düstere Schatten aufziehen. Ob Fan der Reihe, oder Neueinsteiger, es fällt jedem Leser leicht, sich in der entworfenen Welt zurechtzufinden, da dieses Buch noch vor dem "Goldenen Kompass" spielt. Es ist daher Band Null der Geschichten um Lyra Belacqua.
In dieser Welt hat jeder Mensch einen Daemon, eine Art Seelentier, das ihn von Geburt an begleitet. Bei Kindern wechseln die Daemonen noch die Tiergestalt, später dann nehmen sie eine unveränderbare Form an, welche Rückschlüsse auf den Charakter des dazugehörigen Menschen zulässt. Zeitlich ist die Handlung zu Beginn des Industriezeitalters verortet, auch in dieser Welt gibt es Maschinen, doch ihr Gebrauch ist noch nicht zur Selbstverständlichkeit geworden. Beinahe herrscht ein Gefühl der Geborgenheit vor, jeder kennt jeden, Höflichkeit wird großgeschrieben und Hilfe anzubieten ist Ehrensache. Es scheint fast so, als würde Malcolm in einer heilen Welt leben, doch leise blitzt immer wieder auf, dass es durchaus Gefahren gibt, die niemand unterschätzen sollte. So sind zwar die Nonnen, die sich um Lyra kümmern, freundliche ältere Damen, die niemanden ein Haar krümmen würden, doch es gibt sehr bedrohliche Strömungen in der Kirche, die vor Mord und Unterdrückung nicht zurückschrecken. Den Erwachsenen ist das durchaus klar; der Leser, der die Handlung aus Malcolms Perspektive erlebt, wird des Schreckens erst nach und nach gewahr. Dann aber wird die Geschichte so bedrohlich, dass ihm so manches Mal die Spucke wegbleibt.
Da Malcolm selber noch ein Kind ist, erscheint die Geschichte teilweise recht einfach gehalten und der Autor verpasst ihr noch dazu einige recht unglaubliche Zufälle. Dennoch fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen, denn Philip Pullmann kann schreiben. Sein Stil ist bildhaft, einladend und bezaubernd. Selbst, wenn er grauenvolle Dinge, wie Gewalt oder Mord beschreibt, bleibt er in Malcolms Perspektive und nimmt ihnen ein bisschen den Schrecken. Daher ist "Über den wilden Fluss" durchaus für junge Teenager geeignet. Doch auch Erwachsene werden unterhalten. Für sie hat der Autor deutliche Untertöne in die Geschichte geschrieben, wie einen Schülerbund, dessen Mitglieder dazu benutzt werden, die eigene Familie auszuspionieren und zu denunzieren. Ganz deutlich wird hier, welche Anleihen aus der Geschichte Pullman genommen hat, um die Bedrohung durch das totalitäre System der Kirche zu beschreiben.
Noch zwei weitere Bände sind geplant, der nächste soll zwanzig Jahre in der Zukunft spielen. Wer sein Herz an Malcolm und Lyra verloren hat, wird sich darüber freuen, denn es ist wahr. Die neue Trilogie unterscheidet sich ein wenig von der Reihe um den goldenen Kompass, doch sie hat, bei aller Vertrautheit, ihren eigenen Zauber, dem sich kaum jemand entziehen kann. Sie sprüht vor Fantasie, Ideen und wundervollen Charakteren, die der Leser gerne auf ihrer Reise begleiten wird.
Eine Leseprobe ist auf der Verlagsseite zu finden.