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Als Karl erfährt, dass sein Vater sich getötet hat und seine Mutter sich auf der Intensivstation befindet, hat er in Berlin trotz seines jungen Alters von nicht einmal dreißig Jahren bereits Karriere als Künstler gemacht. Unter einem Künstlernamen. Denn er wollte nicht der junge Stiegenhauer sein. Seine Eltern sind das bekannteste zeitgenössische Künstlerpaar Deutschlands, er war immer nur ein meist ignoriertes, im Internat geparktes Anhängsel, doch er hat ihre Begabung geerbt.
Seine Mutter überlebt wider Erwarten die Operation ihres enormen Hirntumors, deretwegen sich sein Vater erhängt hat. Doch sie ist nicht mehr dieselbe, als sie aus dem künstlichen Koma erwacht: Sie betrachtet nun Karl als August, ihren Mann. Und er spielt mit, obwohl seine Situation dadurch sehr komplex wird. Denn in sein Leben sind weitere Menschen getreten, und für seine Lebensgefährtin Mara gibt es plötzlich keinen Platz mehr.
"Ich fahre ein paar Tage weg und habe dummerweise die ungelesenen Bücher zu Hause liegen lassen. Welches Buch von denen, die Sie zuletzt gelesen haben und die hier ausliegen, würden Sie mir empfehlen?"
"Was lesen Sie?"
"Belletristik quer Beet."
Dialog mit einer Angestellten, die gerade Bücher einräumt, in einer Bahnhofsbuchhandlung und daraus resultierend eine wahre Entdeckung. Die Mitarbeiterin präsentiert "Leinsee" und "rezensiert" den Roman so leidenschaftlich wie kundig. Natürlich nimmt die Kundin das Buch mit – und kann von der Lektüre nicht lassen, bis es ausgelesen ist.
Karl, der Protagonist, hat es geschafft, als Künstler aus dem Schatten seiner hochdekorierten Eltern zu treten. Doch nun ist nichts mehr, wie es war: Selbstmord des Vaters, weil die Mutter ohnehin bald sterben wird – was sie nicht tut, dafür verändert sich ihre Persönlichkeit.
Hilflos landet Karl in diesem Alptraum. Ein achtjähriges Mädchen namens Tanja hilft ihm, das im Kirschbaum des elterlichen Grundstücks zu sitzen pflegt und ihm seine Freundschaft anbietet. Auch die Krankenschwester der Mutter, Alexandra, hilft, wenngleich ganz anders, unter anderem auf der erotischen Schiene. Für diese wäre eigentlich Karls Freundin Mara zuständig, die jedoch an einer Weiche eine andere Richtung genommen zu haben scheint.
So sucht und findet sich Karl über die Jahre. Nichts bleibt, auch die verwirrte Mutter nicht. Außer seinem Förderer und Galeristen. Und Tanja.
"Wild wie ein Gewitter, zart wie ein Hauch", charakterisiert der Verfasser des Klappentexts den Roman. Dies trifft definitiv zu. Karl, in der Beziehung seiner Eltern überflüssiges Beiwerk, setzt sich nach ihrem – teils physischen, teils schöpferischen – Ende mit ihnen auseinander und droht dabei den Kontakt zur Außen-, zur eigentlichen Welt zu verlieren. Sensibel und sehr empathisch erzählt die Autorin von dem feinen Band zwischen Karl und dem kleinen, dann heranwachsenden Mädchen Tanja, das ihn am Leben festhält, während andere Beziehungen kommen und gehen und Karl in einer verblüffenden Symbiose aus Abgrenzung und Verschmelzung von und mit seinen Eltern seine eigene künstlerische Ausdrucksform entwickelt.
Stark, intensiv, mit langer Nachwirkung. Der Dank an die Bahnhofsbuchhandlungsmitarbeiterin könnte kaum größer ausfallen.
Eine Leseprobe gibt es auf der Verlagsseite.