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Auch einem gestandenen Mann kann etwas widerfahren, was sein Leben aus den Angeln hebt. Im Fall des Justus Mall kostet ihn das Etwas seine berufliche Existenz, und der Jurist bezeichnet sich nun als Philosophen mit einer Zuständigkeit zwischen Alles und Nichts.
Er beginnt, sich als Blogger zu betätigen, schreibt Briefe an eine nicht existierende Geliebte, von der er hofft, es könne sie doch geben. Ihr kann er sich ganz öffnen und ihr "gar alles" über sein Leben schildern, das gerade nicht ideal verläuft, nicht nur wegen der Geschichte, die ihn zum Philosophen hat werden lassen.
Denn Justus Mall ist ein großer Liebender, einer, der zwei Frauen liebt – abgesehen von der körperlosen Unbekannten – und nicht recht einsieht, warum das nicht in Ordnung sein soll. Doch zumindest die zweite, jüngere, Silke, kommt es nicht infrage. Und so klagt der von ihr verlassene und nur noch mit auf Englisch verfassten Mails traktierte Justus Mall dem Blog oder seiner unbekannten Geliebten sein Leid.
Justus Mall hieß früher einmal anders. Der Philosoph hatte auch einen anderen Beruf – den aber erfährt der Leser, im Gegensatz zum Namen: Oberregierungsrat. Genommen wurde ihm dieser Beruf durch eine, wie er meint, Lappalie, als wohl die von ihm gern thematisierte "Altersgeilheit" mit ihm durchging. Ein für ihn flüchtiger Griff an einen fremden, jungen weiblichen Oberschenkel, eine scheinbar bedeutungslose Bemerkung, und schon hatte er eine Klage am Hals. Ein Schelm, wer dahinter eine Anspielung auf einen gewissen FDP-Politiker vermutet. Und Walser bringt folgerichtig, wenngleich nicht unter dieser Bezeichnung, auch die "Me Too"-Debatte aufs Tapet.
Überhaupt finden sich immer wieder Auseinandersetzungen mit unserer Zeit und dem Zeitgeist. Justus Mall dürfte mit seinen Ansichten, die so gar nicht politisch korrekt sind, bei manchem Hörer anecken – und doch ist nie ganz klar, ob sich Walser hier selbst offenbart oder mit seiner Leser- beziehungsweise Hörerschaft nur raffiniert spielt, sie fast ein wenig vorführt.
Justus Mall bloggt meist wie ein klassischer Briefeschreiber in der ersten Person, manchmal jedoch auch ganz bewusst in der dritten, wenn ihm eine "Beichte" schwerfällt oder er sich aus anderen Gründen genötigt sieht, sich von seinem Ich zu distanzieren. Sofern er denn wirklich sein Ich und gar alles präsentiert – auch diese Frage lässt Walser offen.
Und so schreibt und schreibt sein Protagonist an die niemals antwortende unbekannte Geliebte, heischt Aufmerksamkeit und Verständnis für sein Liebes- und Triebleben, das, so scheint es, zumindest seit einiger Zeit das einzig Bemerkenswerte an seinem Leben ist. Zumindest für ihn selbst.
Wer Walser mag, wird auch von diesem Buch angetan sein – und womöglich umso mehr vom Hörbuch, das der Autor persönlich spricht, mit unverkennbarer Stimme. Schon deshalb besitzt das Hörbuch einen enormen Charme. Walsers Stil, sein Umgang mit der Sprache begeistern in diesem Werk wie gewohnt. Auf den Inhalt mit seiner nur scheinbaren (?) Fokussierung auf die "Altersgeilheit" und ihre Ausprägungen und Folgen muss der Hörer sich einlassen können; er wird bei genauerem Hinhören eine beachtliche Vielschichtigkeit feststellen.
Ein besonderes Hörbuch also, das durchaus polarisieren dürfte – Walser eben.
Reinhören ist auf der Verlagsseite möglich.