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Nathan Glass ist 59 Jahre alt und hat so ziemlich alles verloren: als letzte Konsequenz einer schrecklichen Ehe seine Frau, als Konsequenz einer Krebserkrankung seine Gesundheit, seine Haare und seinen Job. Zu seiner Tochter Rachel hat er ein schlechtes Verhältnis, er fühlt sich rundherum als Versager. Dermaßen am Tiefpunkt seines Lebens angekommen, zieht Nathan zurück nach Brooklyn, seinem Geburtsort, zunächst um dort in Frieden zu sterben. Es kommt jedoch anders, denn in Nathans Leben treten nach und nach verschiedene Charaktere, faszinierende Figuren, die allesamt mehr oder weniger gescheitert sind oder noch scheitern werden.
Da wäre zum Beispiel Nathans Neffe Tom, der seine Doktorarbeit abgebrochen hat und ein trostloses Leben ohne Frauen, dafür aber mit 20 Pfund Übergewicht führt und der als Taxifahrer und Aushilfe in einem Antiquariat jobbt. Da wäre Harry Brightman, Besitzer des Antiquariats, ehemaliger Galerist, wortgewandter Kunstfälscher und Häftling. Da wäre Nathans Nichte Rory, die Drogen- und Männerprobleme hat und stetig auf der Flucht zu sein scheint. Und da wäre die neunjährige Lucy, Rorys Tochter, die aus heiterem Himmel bei Tom und Nathan auftaucht und die durch nichts zum Sprechen zu bewegen ist. Nathan schildert die Schicksale dieser und anderer Personen, die sich vielfach berühren, verknüpfen und aufeinander aufbauen, aus der Perspektive eines allwissenden Ich-Erzählers und in Form eines niedergeschriebenen Berichts, in dem er sich teilweise direkt an den Leser wendet und manchen Ereignissen vorgreift ("Doch dazu später mehr.")
Wie gewohnt führt Paul Auster den Leser durch die Welt der Zufälle und Überraschungen, breitet vielfältige, teils skurrile Charaktere vor ihm aus und gibt gleichzeitig eine Liebeserklärung an Brooklyn, den Ort, wo der Schriftsteller tatsächlich zu Hause ist, ab.
Zum Titel des Buches: In Brooklyn beginnt der geknickte Nathan an einem Buch zu schreiben, in dem er persönliche Fehlschläge, Misserfolge und Missgeschicke, die ihn seit seiner Kindheit ereilt haben, niederschreibt. Diese Aufzeichnungen nennt er ein wenig hochtrabend Das Buch der menschlichen Torheiten. Der Originaltitel des Auster-Romans - The Brooklyn Follies, also die Brooklyn-Torheiten - trifft die Geschichte somit noch einen Deut besser als der deutsche Titel Die Brooklyn-Revue. Dennoch: Eine Revue ist ja ein Stück Tanztheater, das weniger einen zusammenhängenden Handlungsstrang besitzt, sondern mit einer Vielzahl unterschiedlicher Darbietungen aufwartet und so einen Gesamteindruck entstehen lässt. Ähnlich gestaltet sich Paul Austers Roman als eine Vielzahl an Personen, Lebensschicksalen, Zufällen, überraschenden Wendungen und Ereignissen. Die Brooklyn-Revue ist unterhaltsam, häufig spannend und überraschend, ein wenig traurig, ein wenig dramatisch, ein wenig komisch - kurzum: ein wenig von allem. Das Buch vereint Komödie, Beziehungskiste, Selbstfindung, Drama, Gaunergeschichte und Krimielemente.
Der Plot, die unmittelbare Handlung, ist weniger spektakulär und geradlinig als in Austers anderen Werken; tatsächlich lässt sich der Kern der Handlung - Mann geht nach Brooklyn, um sich von seiner Krebserkrankung zu erholen oder um dort zu sterben und trifft dort Verwandte und Freunde - auf wenige Sätze zusammenfassen - aber darum geht es auch nicht. Untypisch geht dem Werk jedoch der für Auster eigentlich typische Surrealismus ab, was schade ist. Das Düstere, Unberechenbare und Unheilverkündende, das sich durch andere Werke wie Nacht des Orakels oder Im Land der letzten Dinge zieht, fehlt hier beinahe vollständig. Es mangelt zwar nicht an tragischen Begebenheiten und Schicksalsschlägen, sogar ein wenig traurig wird es zwischendurch, doch im Großen und Ganzen läuft alles auf ein Happy End hinaus, wenn auch auf kein allzu glattes. Statt Verwirrung und ausgeklügelten Erzählperspektiven gibt es diesmal Geradlinigkeit. Die Fäden laufen am Ende zusammen, Auster gönnt fast all seinen Charakteren eine Lösung ihrer Probleme, im günstigsten Fall sogar die Erlösung. In manchen Fällen, etwa bei Nathans Nichte Rory, wirkt dieses Aufatmen am Ende fast ein wenig zu weit hergeholt, so gut fügt sich plötzlich alles zusammen. Das Attribut "seicht" trifft es zum Glück nicht, dafür ist der Autor ein zu guter Schriftstellter, "friedfertig" schon eher. Wäre Auster nicht Auster, die Geschichte hätte in die Hose gehen können. So ist Die Brooklyn-Revue ein für Paul Auster ungewöhnlich zahmes Buch, nichtsdestotrotz interessant und sprachlich wie immer ausgezeichnet.
Die letzten Zeilen des Romans machen indes nachdenklich und verheißen das Ende von Ruhe und Hoffnung. Während die Romanfiguren zur Ruhe kommen dürfen und hoffnungsvoll in ihre Zukunft blicken, ändert sich die Welt in einem letzten großen Zufall. Auster lässt seinen Protagonisten Nathan Glass am strahlenden Morgen des 11. September 2001 auf die Straße hinaustreten, kurz bevor es zu den verheerenden Attentaten auf das World Trade Center kommt:
"Nur zwei Stunden später trieb der Rauch von dreitausend verbrannten Leibern auf Brooklyn zu, regnete als weiße Wolke aus Asche und Tod auf uns hernieder. Aber noch war es erst acht Uhr, und als ich unter dem strahlend blauen Himmel die Straße entlang spazierte, war ich glücklich
"Bisher wurde eher wenig geschrieben über den 11. September - als einem der wenigen Autoren gelang es bislang Jonathan Safran Foer mit "Extrem laut und unglaublich nah", die Anschläge und ihre Folgen behutsam einzufangen. Obwohl Auster sich hier nur in sehr wenigen Zeilen anschließt, spürt man den Schmerz, den er als Wahl-New Yorker sicher empfunden hat. Fazit: Fans von Paul Auster können hier eigentlich bedenkenlos zugreifen, auch wenn sie unter Umständen überrascht sein werden, wie wenig düster und stattdessen hoffnungsvoll der Roman ist. Auch anderen Lesern ist Die Brooklyn-Revue ans Herz gelegt, weil Paul Auster ein fantastischer Schriftsteller ist, dem vor allem in seiner sprachlichen Präzision wenige das Wasser reichen können.