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Erinnern Sie sich an Ihre Schulzeit? Dann erinnern Sie sich vielleicht auch noch an die Literaturinterpretationen aus dem Deutsch-Unterricht. Langweilig, oder? Nun, "S/Z" von Roland Barthes ist ein Buch über die Interpretation, und, wie ein Bekannter mir versichert hat: "It kept me up all night" - es hat mich die ganze Nacht wachgehalten.
Barthes ist einer jener französischen Intellektuellen, die durch einen außerordentlichen Willen, die Kultur neu zu hinterfragen, eine ganze Reihe faszinierender Bücher hinterlassen hat. Dieses hier kreist zunächst um einen Text, um eine kleine Geschichte von Balzac: "Sarrasine". Im Inhaltsverzeichnis findet man dreiundneunzig recht kurze Kapitel mit teilweise ungewöhnlichen Überschriften:
Der gestirnte Text, Das Lager der Kastration, Das Geplapper des Sinns, um hier einige zu nennen.
Interpretation, darum geht es Barthes. Ist es eine klassische Interpretation, die Barthes hier liefert? Nicht wirklich, denn Barthes schreibt von dem literarischen Werk, dass es eine Einmaligkeit besitzt, die nicht abnimmt. Damit distanziert er sich von den geheimen Fantasien manches Interpreten, dass man ein Werk restlos erklären könne, dass man dieses Werk durch einen Schlüssel wie eine Schatztruhe aufschließen könne, ja, dass es überhaupt so etwas wie eine objektive Erklärung gebe. Barthes setzt eine ganz andere Definition dagegen: Interpretieren heißt, so schreibt er, abzuschätzen, aus welchem Pluralen, aus welcher Vielfalt ein Text besteht. Abschätzen, abschmecken, eher wie ein Hobby-Koch, der probiert, welche Zutat in seiner Suppe noch fehlt.
Das zentrale Werkzeug, das Barthes dazu bereitstellt, ist die Konnotation: Diese weist auf eine Kraft hin, die im (Lesen des) Text(es) aktiv ist. Salopp gesagt ist die Konnotation ein Einfall, der sich beim Lesen ergibt; der Einfall selbst ist ein Zeichen einer Kraft. Läse ich zum Beispiel "Sie sang glanzvoll eine Arie von ...", so könnte mir das Wort "Star" einfallen: Die Sängerin ist ein Star auf der Opernbühne. Und läse ich dazu, dass die Sängerin launisch ist, dass sie viele Bewunderer hat, die sie ausnutzt und ohne erkennbaren Grund erhört oder zurückweist, dann festigt sich das Zeichen des "Stars". Aber es können auch ganz banale Kräfte sein, die im Text wirken, Kräfte, deren Wirken wir nicht wahrnehmen, Kräfte der Gewohnheit, des Alltäglichen und Banalen: Jemand ergreift die Klinke einer Tür, öffnet sie, tritt in das dahinter liegende Zimmer und grüßt den darin anwesenden Menschen. Die Konnotation selbst ist ein so einfaches wie launisches Instrument.
Dabei nutzt Barthes ein zweites Instrument: die Lexie. Die Lexie oder Leseeinheit entsteht, wenn der Leser sein Lesen unterbricht, weil ihm ein Einfall durch den Kopf schießt. Der Leser liest, ohne zu lesen; oder: Er fügt dem Lesen des Textes etwas hinzu, was zum Lesen notwendig dazugehört: sich selbst als Lesender.
Zweifellos führt Barthes etwas vor, das zunächst belanglos erscheint: die scheinbar natürliche Tätigkeit des Lesens. In dieser Form hat BarthesÂ’ Methode auf den ersten Blick etwas sehr Spielerisches, ja Willkürliches und scheint kaum angemessen zu sein, um Literaturwissenschaft zu betreiben. Wo liegt dann die Strenge der Methode? Ohne dass Barthes dies direkt sagt, liegt die Strenge darin, nicht nur seinen Launen zu gehorchen, sondern jeder seiner Launen zu gehorchen, diese aufzuzeichnen und sie, wenn schon nicht in eine Ordnung zu bringen, so doch zu ordnen. Lesen, strenges Lesen heißt: seine Einfälle zu vervollständigen (auch wenn die Vollständigkeit letztlich Illusion bleibt), seine Einfälle zu ordnen (auch wenn es nie eine einzige Ordnung geben wird).
Barthes hat immer wieder seine Leser überrascht. So auch hier. Das Buch ist systematisch und spielerisch zugleich. Es ist hervorragend geschrieben, und die Leichtigkeit der Schreibweise täuscht über die Strenge oftmals hinweg, mit der diese Interpretation von Balzacs "Sarrasine" angefertigt wurde. Diese Strenge ist aber von der ersten bis zur letzten Seite vorhanden. Gleichzeitig ist dieses Buch einer jener großen Brüche, nicht nur in der Wissenschaft der Interpretation, sondern auch ein ganzes Stück weit für Barthes selbst: Hier zeigt er umfangreich, wie stark er die strukturale Erzählanalyse verlassen hat, zu der er mehrere Artikel veröffentlicht hatte. Einflüsse des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan und vor allem aus dem Buch "Nietzsche und die Philosophie" des Philosophen Gilles Deleuze sind deutlich erkennbar. Mit vielfältigen Werkzeugen liefert Barthes eine berauschende Fast-Nicht-Interpretation und macht Lust, ebenso zu verfahren. Das Interpretationsmodell selbst überwindet zahlreiche Probleme, die die klassische Interpretation nicht sehen konnte, nicht sehen wollte, ja teilweise rigoros bekämpft hat, obwohl sie - die klassische Interpretation - diese erst ermöglicht hat. Und insofern sich auch heute noch hartnäckig eine Interpretationsweise hält, die arrogant einen Text auf eine zentrale Aussage hin deutet, die einen Text in eine Hierarchie zu anderen Texten bringt, insofern BarthesÂ’ doch schon recht altes Buch immer noch gegen die gleichen alten Methoden gelesen werden kann und gelesen werden sollte, insofern ist dieses Buch weiterhin für manche schockierend, für manche revolutionär, und letzten Endes höchst lehrreich.