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Amokläufe an Schulen gehören heutzutage zu den Sachen, die jeder unbewusst oder bewusst befürchtet; immer wieder kocht die Angst durch Drohungen oder durch tatsächliche Ereignisse hoch. Und immer werden Schuldige gesucht, nicht nur die, die den Abzug betätigten, sondern andere, die sich im Hintergrund befanden. Die Eltern, die ihr Kind vernachlässigt haben, die Medien mit ihren Gewaltdarstellungen, die allgemeine Verrohung der Gesellschaft, die Mitschüler, die den Amok laufenden Jugendlichen mobbten und dadurch zur Tat trieben, die Lehrer, die die Anzeichen übersahen
Kann es wirklich so viele Schuldige für eine Tat geben? Oder ist doch der Schuld, der sie begeht, nicht die Umwelt?
"Wir müssen über Kevin reden" ist ein Roman, der sich mit dem Leben einer Mutter beschäftigt, deren Sohn ein furchtbares Verbrechen beging und das nicht einmal aus den "typischen Gründen" heraus.
Eva und Franklin leben ein glückliches Leben zusammen. Sie ist Firmenleiterin eines Unternehmens, das Reiseführer für Globetrotter herausbringt, und daher viel unterwegs, er ist selbstständiger Location-Scout. Während sie mit Beruf und Ehe ausgefüllt und glücklich ist, wünscht sich Franklin mehr. Eher, um ihm einen Gefallen zu tun, als aus dem Wunsch heraus Mutter zu werden, wird Eva schwanger. Doch spätestens bei der Geburt merkt sie, dass dies ein Fehler war. Sie kann ihr Kind nicht lieben, und auch ihr Sohn Kevin scheint sie abzulehnen, der Säugling will um keinen Preis von ihr gestillt werden.
Über die Jahre hinweg steigert sich die Ablehnung der beiden hin zu Feindschaft, eine seelische Gemeinheit jagt die nächste, doch stets scheint Kevin der überlegene in dieser Konfrontation zu sein. Franklin sieht Kevins Bösartigkeit nicht - wenn andere Kinder wegen ihm weinen und Eva mit ihm schimpfen will, schlichtet Franklin immer und tut jede Gemeinheit als "kleine Jungen-Streich" ab, entschuldigt seinen Sohn, wo immer es auch geht. Eva hingegen glaubt, ihn besser zu durchschauen. So lebt Eva ein Leben vor sich hin, in dem sie immer unglücklicher wird, ihre Ehe langsam kaputt geht, sie sich von ihrem Sohn terrorisiert sieht und in dem ihr einziger Lichtblick ihre kleine Tochter Celia ist, sieben Jahre jünger als Kevin und von ihrer Mutter geliebt und vergöttert. Aus Liebe zu Franklin versucht Eva, auch Kevin eine gute Mutter zu sein, doch Kevin hält nichts von diesen Bemühungen und unterläuft sie, wo er nur kann. So steuert alles langsam auf eine Katastrophe zu, deren Ausmaß keiner außer Kevin erahnen kann. Kevin nimmt eines Morgens nach langer Planung seine Armbrust mit in die Schule und lockt die beliebtesten und begabtesten Schüler in einen Hinterhalt.
Eva ist nach der Tat allein, wird vor Gericht gestellt und muss mit allen Schuldzuweisungen selbst fertig werden. In ihren Briefen an Franklin berichtet sie mit schonungsloser Offenheit alle Details ihres Lebens mit Kevin und ihres Weiterlebens nach dem
Donnerstag, der ihr Leben so brutal und drastisch veränderte.
"Wir müssen über Kevin reden" ist äußerst bewegend und eindringlich geschrieben. Auch wenn man alles lediglich aus Evas Sicht durch ihre Briefe erfährt, wird es nicht langweilig. Die Sprache ist immer dicht und packend, gut gewählte Metaphern und Bilder intensivieren das Erlebnis beim Lesen noch. Diese Intensität ist aber auch für den Leser belastend, manchmal muss man das Buch weglegen, weil die Geschichte zu beklemmend, zu real und beängstigend wird.
Kevin ist anders als das Bild, das sonst immer von Amokläufern gezeichnet wird. Er kommt aus einer reichen Familie, zumindest sein Vater vergöttert ihn, seine Mitschüler haben Angst vor ihm und lassen ihn in Ruhe, er hat ein paar Freunde, ist also auch kein kompletter Außenseiter. Er ist höchst intelligent, dass er nicht dauernd Einsen schreibt liegt nur daran, dass er nicht auffallen will. Das Bild, das von diesem Jugendlichen, der zum Mörder wird, gezeichnet wird, ist beklemmend.
Der Ansatz der Autorin, zu überlegen, ob ein Mensch schon als Baby böse sein kann, ob dieses Kind dann zu einem grausamen Menschen aufwächst, ist äußerst interessant. Auch die Gedanken Evas, ob Kevin nicht möglicherweise ihren eigenen Unwillen über ihre Schwangerschaft und seine Geburt spürte und daher so wurde, wie er ist, ist ein neuer Ansatz. Weiß man denn, wie viel Säuglinge von ihrer Umwelt mitbekommen und wie diese Erlebnisse in frühester Kindheit sie prägen?
Die Geschichte ist nicht nur durch die Katastrophe, deren wahre Ausmaße der Leser erst fast am Ende des Buches ermessen kann, faszinierend, sondern auch durch die Schilderungen Evas der vielen kleinen oder größeren Gemeinheiten, die Kevin während seiner Kindheit begeht und durch die Art, wie sie die Schuld an allem zunächst bei sich selbst sucht. Hätte sie ihr Kind mehr lieben sollen? Oder hat sie die Feindschaft Kevins ihr gegenüber einfach zu ernst genommen, sich davon zu sehr leiten lassen? Was hat sie falsch gemacht, wo hat sie so sehr versagt, dass es sie ihre Ehe, ihr Glück und eigentlich auch ihr gesamtes Leben kostet?
Sie versucht nicht, sich zu entschuldigen, sie erklärt lediglich und macht dadurch dem Leser klar, dass die Schuld immer zuerst bei den Eltern gesucht wird, egal wie berechtigt oder unberechtigt das auch sein mag. Ihr Umgang mit Schuld und Vergebung, mit der Liebe zu ihrer Familie, vor allem zu ihrem Mann, und mit dem Verlust von allem Geliebten, ist ehrlich und schmerzhaft.
Lionel Shriver muss auch für die Charakterzeichnung Kevins gelobt werden. Kevin bleibt seiner Mutter und somit auch dem Leser gegenüber immer verschlossen und geheimnisvoll, man kann seine Handlungen nicht durchschauen und begründen. Nur hin und wieder fällt die Maske. Dies sind eindringliche Momente, in denen man beginnt, ein wenig zu verstehen.
Doch auch wenn ein wenig Verständnis erwacht, die Tat bleibt immer noch ohne Begründung und Entschuldigung. Ein verstörender und beklemmender Roman, psychologisch und literarisch höchst anspruchsvoll, über ein Szenario, das leider mittlerweile zu unserer Gesellschaft gehört, von dem sich aber jeder wünscht, dass es ihn nie persönlich treffen möge.