"Ein Roman aus der nervösen Zeit" - so lautet der Untertitel von Reinhard Jirgls neuem Buch "Abtrünnig". Gemeint sind dabei die Jahre 2000 bis 2004, die Ära der sogenannten Globalisierung, des Raubtierkapitalismus und der Angst vor terroristischen Anschlägen. In der Tat, es gibt in dieser Zeit viele Gründe, nervös zu sein, sei es aus Furcht vor dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes oder aus Frust über die ständige Konkurrenzsituation, in der sich der moderne Mensch befindet.
Dies trifft auch auf die beiden Protagonisten in "Abtrünnig" zu, deren Lebenswege Reinhard Jirgl gegeneinandersetzt und miteinander verknüpft. Der eine ist Journalist, schlägt sich nun in Hamburg mit den Tücken seines Berufs umher und trennt sich nach vielen Jahren von seiner Ehefrau, mit der ihn nichts mehr verbindet. Der andere ist ein ehemaliger Grenzsoldat der DDR, arbeitet inzwischen beim Bundesgrenzschutz in Frankfurt an der Oder und verliert seine geliebte Ehefrau durch Krebs. Beide verlieben sich neu, in deutlich jüngere Frauen, und folgen diesen in den Moloch Berlin - jener Stadt, in der sich die "bundesdeutsche Realität" in Architektur und Sprache, auf dem Arbeits- und Wohnmarkt verdichtet, die als ein mechanisches, von kalten Marktinteressen gesteuertes Ungetüm die Menschen verschlingt und deformiert. Zwei Gescheiterte treffen hier aufeinander - oder irren vielmehr als parallele Figuren durch die Straßen Berlins, welche Jirgl wieder einmal mit einer apokalyptischen Sprachgewalt beschreibt, die seinesgleichen sucht. Einen Hoffnungsschimmer sucht man hier vergebens. Jirgl malt unsere Gegenwart in den schwärzesten Farben, wechselt zwischen Haßtiraden, bitterer Melancholie und finsterem Zynismus hin und her. Seinen Protagonisten läßt er keine Chance, ihren dem Abgrund entgegenführenden Lebenswegen zu entrinnen. Zu allgegenwärtig sind die Zwänge und Deformierungen durch den Kapitalismus, der die Figuren seinen Mechanismen unterwirft und ihr Leben bis in die Intimsphäre hinein prägt.
Kein Buch also für Leute, die sich ihre gute Laune nicht verderben lassen wollen. Und auch kein Buch für Menschen, die stilistische Experimente ablehnen. Denn Reinhard Jirgl verfaßt seine Bücher in einer eigenartigen, gehetzt wirkenden Sprache, einem adjektivreichen und stakkatohaft anmutenden Sprachteppich, der mit typographischen Eigenheiten durchsetzt ist. Worte werden durch Ausrufezeichen, Fragezeichen oder Bindestrichen mit neuer Bedeutung aufgeladen, hinterfragt oder in ihre Bestandteile zerhackt, Silben werden durch Zahlen ersetzt oder durch eine veränderte Interpunktion neu betont. Ein kurzes Textbeispiel (S. 167) erläutert diese Schreibweise:
Ungerührt redet die Alte weiter: -Kurz gesagt: Dermann, für den meine Frautochter ihre Ehe & Alles riskiert: ist 1 ehemaliger Kommilitone, 1 Italiener. [
] -:!Darauf läuft immer=Alles hinaus: Die-Vernunft als schnurriger Tautologie-Motor: Weil Das=was=ist=gut=ist gut=ist=Es weil Es=ist, also muß Das=was=ist bleiben Was=Es=ist
Auf diesen Stil muß man sich einlassen. Am Anfang mag er das Lesetempo drosseln, doch durch die Zeichensetzung ergeben sich neue Sinnzusammenhänge, und diese bescheren ein faszinierendes Leseerlebnis. Hinzu kommt, daß Jirgl in diesem Roman erstmals eine Art "Hyperlinks" einsetzt, also Verweise auf spätere Stellen einfügt oder Erläuterungen in Textkästen einbaut. Auch dies ist freilich eine zynische Anspielung auf den Dot.com-Kapitalismus. Jirgl ist und bleibt einer der wichtigsten Kommentatoren unserer Zeit, der die Finger auf jene Wunden legt, die wir nur zu gerne unter unseren H&M-Pullovern verstecken. Selten wird einem jeder Anflug von Optimismus auf so hohem Niveau ausgetrieben. Ein düsterer und wichtiger Roman, dem man allerdings mit Vorsicht genießen sollte.