Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Die Gefahr, die Balance im Leben zu verlieren, ist ein brandaktuelles Thema, das in keinem Medium fehlen darf, welches Wert auf ein "intellektuelles", akademisches Publikum legt. Dabei geht es dann um die Frage, welche gesundheitlichen Risiken damit verbunden sind, wenn man zu viel arbeitet. Das Problem hat einen ernsten Hintergrund: Tatsächlich nimmt die Arbeitsbelastung für den einzelnen zu, weil Arbeitsplätze abgebaut werden, die zu erledigende Arbeit aber nicht im gleichen Maße abnimmt. Die Arbeitsbedingungen werden schlechter – Stichwort: prekäre Arbeitsverhältnisse. Und so nimmt auch die Gesundheit vieler Arbeitnehmerinnen und -nehmer Schaden, viele erleiden einen Burn-Out, eine Krankheit, die sich proportional zur wachsenden Bekanntheit ausbreitet. Auch in diesem "Genre" gibt es aber natürlich Spitzenreiter und einer hiervon ist zweifellos Reto Lay. Der Organisationsmanager mit insgesamt sechs Hochschulabschlüssen ist Autor dieses autobiographischen Buchs.
Nachdem Lay jahrelang neben einer anspruchsvollen Berufstätigkeit mit viel Personalverantwortung noch ein Zusatzstudium nach dem anderen absolviert und sich dann noch nebenberuflich als Psychotherapeut niederlässt (mit Praxissprechzeiten in den frühen Morgenstunden) sowie als Dozent in diesem Fach an einer Hochschule arbeitet, passiert das, was er selbst als unfassbar, jeder andere aber als zwangsläufig ansieht: Seine Gesundheit macht nicht mehr mit, seine Gesichtsmotorik setzt aus, er ist in Lebensgefahr. Er kann gar nicht mehr arbeiten und muss sich erst langsam von seiner schweren chronischen, auf Überlastung beruhenden Krankheit erholen. Ein rastloser Mensch wie Reto Lay erholt sich aber nicht durch Entspannung, Vergnügen oder gar "Nichtstun", nein, er nutzt die Zeit der Erholung und Gesundung, um über selbige ein Buch zu schreiben. Allein dieser Umstand könnte die Pointe des Buchs sein: Jemand arbeitet so viel, dass sein Körper schlicht nicht mehr mitmacht und er in Lebensgefahr gerät und selbst dieser Tiefpunkt muss dann noch produktiv ausgenutzt werden. Deshalb "entspannt" sich Lay dann, indem er zahlreiche Episoden aus seinem arbeitsreichen Leben aufschreibt und so verarbeitet. Eine gängige Therapie-Methode. Nicht so gängig, aber beliebter werdend (man denke nur an Mirjam Meckels "Brief an mein Leben: Erfahrungen mit dem Burn-Out"), ist es, diese selbsttherapeutischen Gedanken dann als Buch zu veröffentlichen.
Nimmt man Lays Buch als Maßstab, so wäre das Votum hier eindeutig: Dieser Trend gehört im Keim erstickt. Lay hat eine Botschaft für die Leser. Die Botschaft ist, nicht zu viel zu wollen, nicht so rastlos zu sein, eine vernünftige "Work-Life-Balance" zu bewahren. Seine Erkenntnisse und Ratschläge sind dabei jedoch von einer bemerkenswerten Banalität und vor allem Irrelevanz, denn sie werden instinktiv von den allermeisten automatisch beherzigt.
Und so ist es fast schon amüsant, wenn man vom Autor erfährt, dass es wohl nicht ratsam ist, ein weiteres Studium anzufangen, wenn man bereits einen Arbeitstag von sechs Uhr früh bis 22 Uhr abends hat und man keineswegs "frisch und ausgeruht" ist, wenn man sich, wie es der Plan des Autors war, um vier Uhr nachts an den Schreibtisch setzt, um für die Uni zu lernen. Lay gibt sich zu Beginn des Buchs als geläutert. Er habe große Fehler in seinem Leben gemacht, was er nun einsehe und in Zukunft besser machen zu wolle. Seine schonungslose Selbstabrechnung ist aber Wirklichkeit eine ziemlich plump versteckte Selbstverherrlichung.
Kapitel für Kapitel gibt Lay an, wie viel er arbeiten konnte, kritisiert sein Verhalten dann dahingehend, dass er einfach eine "eiserne Disziplin", einen "ungeheuren Arbeitswillen" habe und schlicht nie Durchschnitt, sondern der Beste sein wolle, was ihm auch oft gelang. Das ist in ungefähr so wie der Antwortvorschlag eines jeden Bewerbungsratgebers auf die Frage nach den persönlichen Schwächen im Bewerbungsgespräch: "Ich bin vielleicht ein bisschen zu gründlich und fleißig."
Eine Eigenschaft, auf die man eigentlich stolz ist, wird negativ formuliert und als Schwäche verkauft - bei Lay aber nicht nur in einem kurzen Satz, sondern auf 159 Seiten, was den Fremdschäm-Effekt potenziert.
Zusätzlich zu dieser "Masche" ist die Selbstgerechtigkeit des Autors ein echtes Ärgernis. Denn in Wirklichkeit reflektiert er sein eigenes Verhalten überhaupt nicht kritisch, sondern gibt grundsätzlich anderen, weniger integeren Personen die Schuld an allem Übel, das ihm widerfährt. So lehnt Lay das "Du", das ihm seine Chefin in einem Anflug der Heiterkeit anbietet, ab. Aber Lay lehnt nicht einfach bloß ein "Du" ab. Wenn Lay ein "Du" ablehnt, dann führt er damit auch einen Kampf für Integrität und alles Böse in der Arbeitswelt: "Es war mir unerhört wichtig, meine Ziele mittels eigener Leistungen und Anstrengungen zu erreichen und nicht dank der Unterstützung oder Privilegisierung durch 'mächtige' Personen. Vielleicht aber verlor ich dadurch zeitweise den Blick für das Menschliche, hinterließ den Eindruck der Sturheit oder Arroganz und habe mir vermutliche manche Chance vertan, einen einfacheren Weg zu gehen", schwadroniert er auf Seite 106. Eher ist zu vermuten, dass Reto Lay durch sein bedeutungsschwangeres Philosophieren und Selbst-Verherrlichen seine Umgebung schlicht ebenso nervt wie die Leserinnen und Leser seines Buchs.