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 Aus Sicht des Gehirns


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Gerhard Roth zählt mit Sicherheit zu den bekanntesten deutschen Hirnforschern, was unter anderem an seiner Position in der oft heiß geführten Debatte um den freien Willen liegt und an der Präsenz, die ihm diese Position in den öffentlichen Medien verschafft. So sagte er 2008 in einem ZEIT-Interview: "Die subjektiv empfundene Freiheit einer Entscheidung ist eine Illusion, ich werde stets durch meine Motive bestimmt." Dieser Motiv-Determinismus, wie Roth ihn nennt, ist nicht in erster Linie biologisch begründet, sondern entsteht durch die Interaktion von angeborener Natur und erlernter Kultur.

Roth hat sowohl Philosophie (neben Musikwissenschaften und Germanistik) als auch im Anschluss Biologie studiert. So verwundert es nicht, dass Themen, die lange Zeit den Philosophen vorbehalten waren und zunehmend in die Naturwissenschaften Einzug halten, wie beispielsweise der angesprochene freie Wille oder auch das Bewusstsein, Roths Interesse wecken. Die Frage ist, was bekommt man mit einem Buch aus der Feder Roths, das den Titel "Aus Sicht des Gehirns" trägt: Neurowissenschaft oder Philosophie? Der Titel deutet auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse hin, andererseits kann das Gehirn selbst nicht sehen - ist der Titel also doch eher ein philosophisches Rätsel?

Im Vorwort schon wird der Leser aufgeklärt: Der Suhrkamp Verlag habe um eine Darstellung "einige[r] Aspekte der Hirnforschung und ihre[r] Bedeutung für das Menschenbild" gebeten. Wenn man den Autor kennt, weiß man, dass das provokativer ist, als es sich anhört. In insgesamt zwölf Kapiteln verquickt Roth, auf eine Weise, die wirklich keine allzu große Anstrengung erfordert, Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie. Nach einer kurzen Einführung in das Corpus Delicti, das Gehirn also, seinen Aufbau und seine Begriffe, beginnt Roth mit dem Themenkomplex "Welt, Körper, Ich". Im weiteren Verlauf spricht er darüber, "was uns Menschen so klug macht", ob Wahrnehmung Abbildung oder Konstruktion ist und wie das Gedächtnis funktioniert. Auch die Umwelt-Anlage-Debatte ebenso wie die alte Frage, ob Geist und Gehirn zwei eigenständige Entitäten sind oder nicht, wird von ihm aufgegriffen. Anschließend wird die Bedeutung des Unbewussten vom Autor besprochen, was wiederum direkt zu der Frage führt, welche Rolle Gefühle und Verstand beim menschlichen Verhalten und bei Entscheidungen wirklich spielen, was dann direkt in das Kapitel mündet, das man erwartet: Wie frei sind wir wirklich? Zwei Exkurse in die Beziehung von Religion und Wissenschaft und in die Wissenschaftstheorie bilden das Ende des Buches.

Wie gesagt, zu lesen ist das Buch tatsächlich ohne große Anstrengung, je nach Leser wird allerdings trotz allem mehr oder weniger Geduld von Nöten sein. Wenn man liest, wie viele gesicherte Erkenntnisse wir heute haben, kann man nur mit den Ohren schlackern oder aber sich fragen, warum die Debatten weiterhin so hitzig geführt werden, hat doch Gerhard Roth anscheinend die Antwort auf all die großen Fragen der abendländischen Philosophie gefunden. Auch aus psychologischer Sicht sind die Konstrukte, die der Autor hier darlegt, nicht immer unumstritten beziehungsweise nicht immer eineindeutig. Beispielsweise unterscheidet Roth bei Gefühlen körperliche Bedürfnisse, Affekte und Emotionen. In der Psychologie jedoch ist eine Emotion ein schwer zu definierendes Konstrukt. Allgemein werden verschiedene Komponenten unterschieden, wobei eine dieser Komponenten das subjektive Erleben einer Emotion darstellt und oft als Gefühl bezeichnet wird. Hier sieht man, dass Roths Nomenklatur nicht immer mit der psychologisch anerkannten in Einklang steht. Natürlich erwartet man als Leser nicht, dass Roth zu den Konstrukten, die er benutzt, alle jeweiligen Theorien, Ansätze und Schulen beschreibt, aber einen Hinweis, dass die von ihm so selbstverständlich benutzten Konstrukte, dazu gehören beispielsweise "Ich" oder "Bewusstsein", nicht immer so klar definiert sind, wie es bei ihm den Anschein hat, kann man schon erwarten. Denn letztlich basieren viele Befunde auf psychologischen Konstrukten - und in Experimenten wird man meist nur finden (wenn überhaupt), was man auch sucht.

Liest man das Buch mehr aus Interesse an neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, so werden die vielen Interpretationen Roths einen oft ungeduldig werden lassen. Selbst nicht als Gegner von Roths Definition des freien Willen als determiniert von Motiven kann man sich fragen, warum es ganzer vier Seiten bedarf, um darauf hinzuweisen, dass diese Definition dem deutschen Strafrecht entgegensteht, in dem nach Paragraph 20 jeder Mensch schuldfähig sei, der die Möglichkeit habe, dem Drang der Straftat zu widerstehen, das heißt anders zu handeln, als er es faktisch tat. Dies nun wiederum ist Roths Motiv-Determinismus zufolge eben nicht der Fall, denn niemand kann anders handeln, als er es faktisch tat. Roths Motive, die Bedeutung seiner Definition für das deutsche Strafrecht so ausführlich darzustellen, werden im Dunkeln bleiben. Allerdings wird man hier als auch anderswo im Buch das Gefühl nicht los, der Autor wolle etwas verkaufen: seine Sicht der Dinge, die "zwingenden" Schlussfolgerungen, die sich aus verschiedenen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben.

Nichtsdestotrotz ist Roth ein Buch gelungen, das den Laien beim Folgen seiner Diskussion vor keine allzu großen Hürden stellt. Allerdings sollte man sich eine kritische Distanz bewahren und nicht alles kaufen, was Roth hier anbietet, denn dies ist weder eine Einführung in die Neurowissenschaften noch in die Philosophie des Geistes, sondern vielmehr eine persönliche Argumentation für bestimmte Ideen aus der Sicht des Gehirns des Gerhard Roth.

Katja Maria Weinl



Taschenbuch | Erschienen: 1. März 2009 | ISBN: 9783518295151 | Preis: 10,00 Euro | 243 Seiten | Sprache: Deutsch

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