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Lucy Hall ist Bibliothekarin in Hannibal, Missouri, und für die Abteilung Kinderbücher zuständig. Mit ihrem ereignislosen Leben ist sie eigentlich ganz zufrieden, auch wenn sie manchmal den Verdacht hat, dass sie sich mehr und mehr dem typischen Klischee einer Strickjacken tragenden, ältlichen Bibliothekarin annähert. Ein Lichtblick im Alltag ist der zehnjährige Ian Drake, Stammgast in der Bücherei. Ian ist altklug, für sein Alter extrem intelligent, und, wie Lucys Kollegin süffisant bemerkt, wahrscheinlich schwul. Ians Familie ist tief religiös – auf eine Art, die fast an christlichen Fundamentalismus grenzt – und als Ians Mutter Lucy eine Liste mit Themen überreicht, die ihr Sohn auf keinen Fall lesen darf (Magie, Hexerei, speziell auch Harry Potter, Evolutionslehre, Gewalt, Waffen), schwant Lucy Böses. Tatsächlich wird Ian zunehmend verschlossener und bedrückter.
Eines Morgens, als Lucy früher in die Bibliothek kommt, findet sie den Jungen zwischen den Bücherregalen, wo er übernachtet und sich bereits häuslich eingerichtet hat - offensichtlich will Ian von Zuhause abhauen. Lucy will den Ausreißer pflichtbewusst nach Hause fahren, doch der clevere Junge lotst sie durch die halbe Stadt – und schließlich zu einem unbekannten Ziel, wo angeblich Ians Großmutter wohnt. Je mehr Zeit verstreicht, umso klarer wird Lucy, dass sie von der Polizei und Ians Eltern wohl längst als Kindesentführerin eingestuft wird und ihn nicht einfach so zuhause abliefern kann. So wird die Reise wesentlich länger als geplant und führt das ungleiche Paar bis nach Kanada – Abenteuer, neue Bekanntschaften, Freundschaft, Drama und Tränen eingeschlossen.
"Ausgeliehen" von Rebecca Makkai ist ein eher leiser Road-Roman, in dessen Mittelpunkt die junge, unentschlossene Bibliothekarin Lucy steht. Unentschlossen deshalb, weil sie auf Drängen ihres russischen Vaters hin das vage Gefühl hat, sie müsste endlich etwas Ungewöhnliches tun, etwas aus ihrem Leben machen und ein richtiges Abenteuer erleben. Das kommt schneller als gedacht, als der zehnjährige Ian in ihr Leben tritt und sie schließlich mit Tricks und kindlicher Überredungskunst dazu bringt, gemeinsam ziellos durch die USA zu fahren. Das mag ziemlich unrealistisch erscheinen – niemand würde sich wohl darauf einlassen und am Ende schlimmstenfalls als krimineller Kindesentführer dastehen -, allerdings weiß Lucy, nachdem sie einen kritischen Punkt überschritten hat, nicht mehr, wie sie die Situation auflösen soll.
Manchmal hat man den Eindruck, dass der altkluge Ian vernünftiger und bodenständiger ist als die Erwachsene, die das Auto fährt. Jedenfalls kapituliert Lucy schließlich vor dem cleveren Zehnjährigen und lässt das Abenteuer mit ungewissem Ausgang einfach auf sich zukommen. Die wochenlange Reise führt die beiden zu Lucys russischen Eltern, zu deren Freunden, in unzählige Motels und Diners, auf einen alten Friedhof und in eine Kirche. Wie bei allen Roadmovies und Road-Romanen ist hier der lange Weg das Ziel, und am Ende ist Lucy nicht mehr dieselbe. Die Auflösung ist eher unspektakulär; man hätte sich mehr Hintergründe darüber gewünscht, warum Ian letztendlich ausgerissen ist und wie seine Geschichte weitergeht. Dennoch tröstet Rebecca Makkai am Ende durch eine hübsche Idee, die allen Bibliophilen gefallen wird und die einen kleinen möglichen Ausblick auf Ians weiteres Leben gewährt. Trotzdem hat man ein wenig das Gefühl, dass die "große Reise" letztendlich im Sande verlaufen ist und dass Ians Leben sich nicht, wie erhofft, zum Besseren gewendet hat.
Gelesen wird "Ausgeliehen" von Ulrike Grote. Sie punktet durch ihren lebendigen Vortrag und vor allem durch die unverwechselbare Stimme, die sie dem zehnjährigen Ian gibt – nasal, leicht quengelig, hoch und aufgedreht. So erscheint der anstrengende, hochintelligente Junge bald höchst lebendig vor dem inneren Auge des Lesers.
"Ausgeliehen" ist ein schöner, eher stiller und manchmal melancholischer Road-Roman mit vielen Anspielungen auf Bücher, mit ernsten und lustigen Momenten und zwei eigenwilligen, liebenswerten Hauptfiguren. Ein Abenteuer mit literarischem Einschlag, dessen Ende nicht ganz überzeugen kann.
Eine Hörprobe gibt es auf der Website von Hörbuch Hamburg.