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 Das schwarze Buch

Autoren: Orhan Pamuk
Sprecher: Heikko Deutschmann
Übersetzer: Ingrid Iren
Verlag: Hörbuch Hamburg

Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Gefühl
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung
Ton


Galips Leben verläuft in vorgefassten Bahnen. Als er auf dem Weg zu seiner Tante ist, um dort zu Abend zu essen, kann er sich die Unterhaltung Wort für Wort ausmalen. Er kennt jede einzelne Erwiderung, jeden Satz, jede Geste seiner Verwandten. Die Gespräche drehen sich um seinen Onkel Celâl, einen stadtbekannten Kolumnisten. Seine täglichen Artikel werden nach einem exakten, immer gleichen Schema besprochen ohne wirklich auf den Inhalt einzugehen. Die in Konventionen erstarrten Gespräche täuschen vor Diskussionen zu sein, sind aber eher Spiegel- und Scheingefechte aus reiner Langeweile.
Doch Galips Frau Rüya, die seine Tante anrufen und einladen wollte, ist wider Erwarten nicht da. Er läuft hastig zu seiner nahen Wohnung, kommt nach einigen Minuten wieder und behauptet, seine Frau wäre erkältet und könne nicht kommen.
Diese Lüge hält er aufrecht. Er will nicht offenbaren, dass Rüya ihn verlassen hat und spurlos verschwunden ist. Er notiert Namen und Adressen und beginnt, seine Frau zu suchen. Alte Freunde, ihr erster Ehemann, entfernte Bekannte - nirgends stößt er auf eine Spur seiner Frau. Seltsamerweise scheint auch Onkel Celâl verschwunden zu sein. Seine täglichen Kolumnen sind zwanzig Jahre alte Artikel, die die Zeitung ein zweites Mal druckt, seine diversen Wohnungen und Verstecke sind verlassen.
Galip taumelt durch ein nächtliches, verschneites Istanbul, verliert sich in den Gassen und der Vergangenheit, begegnet Menschen und Orten, Zeiten und Erinnerungen, ohne seiner Frau näher zu kommen. Unzählige Geschichten verdichten sich zu einem Irrgarten, aus dem es für Galip scheinbar kein Entkommen mehr gibt.

Sechshundert Minuten lang philosophiert Orhan Pamuk über Istanbul, seine Bewohner und über die Gedanken und Gefühle eines von seiner Frau verlassenen Mannes. Jeder seiner Sätze ist gefühlte fünf Minuten lang und quillt über vor Einschüben, Attributen und ineinander geschobenen Verschachtelungen. Das Hören dieser endlos scheinenden Konstruktionen ist sehr mühsam und erfordert eine sehr hohe Konzentration. Auch die Leidensfähigkeit des Hörers wird immer wieder gefordert, denn anstatt einer Geschichte zu folgen, hangelt sich Pamuk durch endlos scheinende komplexeste Episoden und Fragmente; Erzählhorizonte verweben sich in vielfacher Weise. Nicht nur Zeitebenen variieren ständig, auch die erzählende Person, ihr Sujet oder ihre Beweggründe, die jeweilige Geschichte zu erzählen, wechseln scheinbar zufällig im Minutentakt.
Es entsteht ein gewaltiges Erzähllabyrinth, in dem der Hörer mehr noch als der Leser unterzugehen droht. Kaum ein einziges Kapitel beschäftigt sich zusammenhängend mit Galip und seinem Schicksal. Immer wieder wird der Hörer entführt in eine neue Geschichte, ein scheinbar zufälliges Ereignis, eine wirre Handlung oder ein märchenhaftes Geschehen. Die Struktur des Buches wird leicht gekürzt übersetzt in das eigentlich passende und angemessene Medium.
Denn wie ein Geschichtenerzähler auf einem türkischen Marktplatz, wie eine Kunstfigur aus "Tausend und einer Nacht", webt Pamuk einen Kokon aus Geschichten um den Hörer herum. Nach einer Weile merkt man, dass man sich diesem fast eintönig anmutenden Fluss nicht entziehen kann, dass man eintaucht in diese fremde, türkische Welt, in die Realität des modernen Istanbuls, verwoben mit Jahrtausende alten Geschichten und Wurzeln.
Die extrem schwierige Aufgabe, diesen Erzählmarathon aus unendlich vielen Versatzstücken zu einem hörenswerten Kunstwerk werden zu lassen, gelingt Heikko Deutschmann perfekt. Seine Leistung ist nahezu fantastisch, denn seiner Stimme, seiner ruhigen Intonation, seinem scheinbar endlosen Erzählen, folgt der Hörer willig und zunehmend fasziniert.
Hier wird schwierige Kost geboten, die entnerven kann und so manchen Hörer aufgeben lässt.
Doch gelingt es, sich selbst zu verlieren und einzutauchen in diesen fremden Kontext Istanbuler Geschichten, bemerkt man die Meisterschaft dieses Autoren. Er schafft es, zwischen den Zeilen die türkische Seele hervorzuzaubern. Sie taumelt zwischen Altertum und Modernität, zwischen Byzanz und Istanbul, zwischen Moschee und Nachtclub und sucht scheinbar hilflos und ohne Aussicht auf Erfolg nach einem Halt.

Fazit: Wer über gute Nerven, eine hohe Konzentrationsfähigkeit und viel Muße verfügt, sollte den Versuch wagen, dieses sperrige, schwierige Stück Literatur zu erleben. Dank Heikko Deutschmann ist dieses Hörbuch der bessere, unbedingt zu bevorzugende Weg, um einen tiefen Einblick in das Schaffen des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk zu erhalten.

Stefan Erlemann



CD | CD-Anzahl: 8 | Erschienen: 01. März 2007 | ISBN: 9783899034264 | Laufzeit: 600 Minuten | Originaltitel: Kara Kitap | Preis: 34,95 Euro

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