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 Der Anschlag

Autoren: Stephen King
Übersetzer: Wulf Bergner
Verlag: Heyne

Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung
Der Mittdreißiger Jake Epping führt ein ziemlich durchschnittliches Leben als Englischlehrer in dem kleinen Städtchen Lisbon Falls, welches aber völlig auf den Kopf gestellt wird, als ihn eines Abends ein Freund zu einer dringenden Unterredung bittet. Al, der Inhaber der örtlichen Burger- und Frittenbude, wirkt auf Jake auf bizarre Weise völlig verändert, als wäre der Mann über Nacht plötzlich um Jahre gealtert und dabei noch schwer krank geworden. Dies stimmt sogar, wenn auch auf völlig andere Art, als Jake es sich jemals hätte ausmalen können.
Al, der sich im Endstadium einer Lungenkrebs-Erkrankung befindet, eröffnet dem völlig perplexen Lehrer, dass es in seinem Diner ein Portal in eine andere Zeit gibt. Wer hindurch schreitet, der gelangt direkt ins Jahr 1958. Dort kann man dann soviel Zeit verbringen, wie man möchte - bei der Rückkehr ins Jahr 2011 sind immer nur zwei Minuten verstrichen. Da Al während seiner Zeitreise-Aufenthalte um Jahre gealtert und schließlich an Krebs erkrankt ist - obwohl in der Gegenwart jeweils nur Minuten vergangen sind -, bittet er nun Jake, in seine Fußstapfen zu treten und einen wichtigen Auftrag auszuführen: Er soll die Ermordung John F. Kennedys am 22. November 1963 verhindern und damit den Lauf der Geschichte für immer verändern. Nach Als Recherchen hat das Kennedy-Attentat nämlich eine Flut weiterer tragischer Ereignisse hervorgerufen, unter anderem den Vietnam-Krieg mit zigtausenden Toten. Jake ergreift nach anfänglichem Zögern die Chance und begibt sich ins Jahr 1958, um sich auf die Vereitlung der Kennedy-Ermordung vorzubereiten. Doch wie er bald feststellen muss, will die Vergangenheit nicht verändert werden - und hat drastische Mittel und Wege, sich zur Wehr zu setzen ...

Denkt man an Amerikas Traumata und an Zeitreisen, so fällt einem zuerst der 11. September 2001 ein. Stephen King hat jedoch in seinem neuesten Roman nicht diesen Anschlag und seine Vereitelung zum Mittelpunkt seines Romans gemacht, sondern ein wesentlich länger zurückliegendes, doch ebenso traumatisches Ereignis: das tödliche Attentat auf den amerikanischen Präsidenten Kennedy am 22. November 1963.
Es ist einer von Kings stärksten Romanen geworden, in dem der Autor sich trotz des politischen Themas auf das besinnt, was er am besten kann: intime Einblicke in typisch amerikanische Kleinstadt-Leben geben, ihre Bewohner zum Leben zu erwecken und eine Prise Übersinnliches hinzufügen, und zwar so gekonnt, dass man gar nicht genug davon kriegen kann.

Bis der 22.11.1963 und damit Oswalds Schüsse auf Kennedy tatsächlich stattfinden, sind neun Zehntel des Buches bereits verstrichen. Der Roman ist also kein ausgedehntes "Was wäre gewesen, wenn ...?". Statt auf die eigentliche Tat und das Danach - obwohl beides natürlich thematisiert wird, und zwar extrem packend - konzentriert sich King auf seine Hauptfigur Jake Epping, der als Zeitreisender in ein Jahrzehnt gelangt, dass ihm gleichzeitig vertraut und fremd erscheint. Hier schwingt eine gehörige Portion Nostalgie mit, wenn Jake sich am entschleunigten Lebensstil ohne Handys und Internet, an Lebensmitteln ohne künstliche Aromen, an nachbarschaftlichen Freundlichkeiten und an niedrigen Sprit- und Lebenshaltungskosten erfreut.
Doch natürlich haben die 50er und 60er Jahre auch ihre historischen Schattenseiten, etwa den Hass auf "Nigger" und Schwule, der Jake wie ein Relikt aus einer völlig anderen Welt vorkommt. Kings Romanheld muss bald erleben, dass die Vergangenheit Zähne hat und schmerzhaft zubeißen kann, wenn jemand versucht, sie zu ändern. So muss der Ich-Erzähler haufenweise Probleme meistern und dabei seinen großen Plan, nämlich Lee Harvey Oswald zum richtigen Zeitpunkt zu stoppen, nicht aus den Augen verlieren. Bis zum Ende ist Jake sich, genau wie die meisten Quellen heute noch, nicht sicher, ob Oswald ein Einzeltäter war. Um diesen Teil des Kennedy-Attentats ranken sich bis heute Gerüchte und tonnenweise Verschwörungstheorien, die Stephen King mit seinem Roman glänzend aufgearbeitet hat. Der große Rahmen der Handlung - das Kennedy-Attentat - ist wunderbar verpackt in eine mitreißende und oft ans Herz gehende Erzählung über einen Mann, der in einer ihm fremden Welt strandet - und bald so sehr darin zuhause ist, dass er nicht mehr zurückkehren möchte. Dennoch verklärt King die damalige Zeit nicht, obwohl sich "Der Anschlag" in weiten Teilen wie eine Liebeserklärung an die Vergangenheit liest.
Ein wunderhübscher Einfall, der Freunde von Stephen Kings anderen Romanen, speziell "ES", freuen wird: In einer Szene trifft Jake im Städtchen Derry auf Beverly Marsh und Richie Tozier, zwei der Schlüsselfiguren im Kampf gegen den Clown Pennywise. Hier, in den sumpfigen "Barrens", findet eine magische kleine Zusammenkunft statt, die wieder einmal Brücken innerhalb von Kings Roman-Universum schlägt.

"Der Anschlag" ist einfach lesenswert: Toll recherchiert und spannend erzählt, mit spannenden, traurigen und anrührenden Elementen - ein echter King eben. Die Handlung schlägt den Leser dabei so in ihren Bann, dass er sogar verzeiht, dass die Existenz des "Kaninchenbaus" - dem rätselhaften Tor in die Vergangenheit, das sich ausgerechnet im Lagerraum eines Diners befindet - im Prinzip überhaupt nicht erklärt wird. Das Zeitloch ist einfach Mittel zum Zweck, um eine große Geschichte zu erzählen, die Stephen Kings Amerika der 50er und 60er Jahre so detailreich, so lebendig vor dem inneren Auge des Leser auferstehen lässt, dass man das Buch trotz seines gewaltigen Umfangs nicht mehr aus der Hand legen mag.

Christina Liebeck

Probe


Hardcover | Erschienen: 23. Januar 2012 | ISBN: 978-3453267541 | Originaltitel: 11/22/63 | Preis: 26,99 Euro | 1056 Seiten | Sprache: Deutsch

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