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London, 1855: Der Vermesser William May kehrt physisch, vor allem aber psychisch zerbrochen aus dem Krim-Krieg zurück. Gegen den Wahnsinn, den er erleben musste, gegen die Totenstarre in seinem Inneren findet er ein Mittel: May verletzt sich selbst, schneidet sich mit einem Rasiermesser in Arme und Beine. Erst wenn das Blut fließt, kann er innerlich aufatmen, die Eiseskälte, die ihn lähmt, für Momente überwinden und sich als lebendiger Mensch fühlen. Schauplatz dieser Selbstverstümmelungen ist das unterirdische Kanalsystem von London.
In völliger Dunkelheit, sechs Meter unter der Welt der Lebenden, kann May sich gleichzeitig geborgen und verloren fühlen. Als Vermessungsingenieur ist er beauftragt worden, das marode Kanalisationssystem zu erfassen, das sich als Geflecht unheimlicher Tunnel und einsturzgefährdeter Gänge unter der Millionenstadt erststreckt. Die Kanäle, die voller Ungeziefer, Abfälle und Exkremente sind, bringen der florierenden Metropole Englands langsam, aber sicher den Tod. Seuchen breiten sich ungehindert aus, der Gestank an der Oberfläche ist nicht auszuhalten. In einem beispiellosen Mammut-Projekt soll nun das Kanalsystem erneuert werden.
Wie William May sind auch Joe und Tom mit Londons beklemmender Unterwelt verbunden. In der verpesteten Dunkelheit suchen die beiden Männer wie viele andere nach verlorenen Schätzen, die zusammen mit Abwasser und Dreck durch die Kanäle gespült werden und verdienen sich ihren Lebensunterhalt, indem sie Ratten für Hundekämpfe einfangen. Die Arbeit ist lebensgefährlich: Giftige Gase und plötzliche Überschwemmungen haben schon vielen Kanalspülern den Tod gebracht.
Dann geschieht ein grausiger Mord und der hilflose William May gerät in einen Strudel aus Intrigen und Wahnsinn. Ist das Blut, das an dem Messer in seiner Tasche klebt, sein eigenes, oder gehört es einem unbekannten Opfer? Die Schicksale von William und Tom berühren sich, als die beiden sich unter ungewöhnlichen Umständen in den Abwasserkanälen begegnen.
Die Autorin Clare Clark führt uns mit diesem Roman in ein London des neunzehnten Jahrhunderts, das nichts von seinem heutigen Glanz hat. Stets präsent sind Armut und Schmutz, Krankheiten und Gewalt, Hunger und Tod. Und über allem liegt der grauenhafte Gestank, den Clark mit widerwärtigen Details beschreibt und so lebendig macht, dass man sich als Leser abwenden möchte. Vergleiche mit Patrick Süskinds genialem Roman "Das Parfüm", den Kritiker gezogen haben, sind stellenweise berechtigt, andererseits unfair, weil sie Clarks Buch wenig Chancen lassen. Zudem wecken sie falsche Erwartungen, denn das Buch handelt von etwas ganz anderem. Viele Leser haben sich an den "Vermesser" gewagt mit der Erwartung, ein ähnlich spannendes Meisterwerk wie "Das Parfüm" vorzufinden und waren enttäuscht von der sich recht langsam entwickelnden Handlung. "Der Vermesser" ist durchaus spannend, aber es passieren nicht ständig Dinge. Dennoch ist das Buch niemals langatmig oder langweilig. Es gibt schließlich kein schriftstellerisches Monopol auf die eingehende Beschreibung auf Gerüchen, deshalb sollte man unvoreingenommen an das Buch herangehen.
Der Roman, übrigens das Erstlingswerk der Autorin, besticht auf jeden Fall durch seine feine Sprache, die es zu einer Freunde macht, ihn zu lesen. Die Schilderungen von Krieg, Elend und Hilflosigkeit sind in ihrem Realismus bedrückend. Wenn May zum ersten Mal nach dem Krieg eine glänzende, neue Wasserwaage in der Hand hält und mit diesem Fremdkörper nichts anzufangen weiß, dann möchte man als Leser fast weinen.
Die Kapitel wechseln zwischen den beiden Erzählsträngen von William, dem Vermesser, und Tom, dem Kanaljäger. Die unterschiedlichen Charaktere sind auch in der verwendeten Sprache deutlich erkennbar. Wenn William agiert, bedient sich Clark einer düsteren, umständlichen Sprache, die stellenweise fast poetisch ist. Ist Tom am Zug, wird die Erzählung etwas seichter, angepasst an das Denken des einfachen Kanaljägers; diese Stellen sind aber nicht minder beeindruckend und lassen dem Leser gleichzeitig etwas Zeit zum Luftholen, bieten quasi eine Auszeit von den quälenden Erlebnissen des Vermessers.
"Der Vermesser" ist kein Roman für einen schönen Sommertag, an den man sich frohgemut und in Erwartung leichter Unterhaltung heranwagen sollte. Die durchgehenden Motive sind Schmutz, Dunkelheit, Verzweiflung und Angst. Man fürchtet und leidet mit William May, den Clark ganz ausgezeichnet entwickelt und den Leser an seinem Innenleben teilhaben lässt. Ob der Leser sich von Mays düsteren Gedanken abstoßen lässt oder ob er sich in seiner Verzweiflung wiedererkennt, bleibt ihm selbst überlassen. Das Buch vermischt Elemente von Thriller und Krimi, Gesellschaftsbild und Drama miteinander und weiß bis zur letzten Seite zu unterhalten.
Eine kleine Warnung zum Schluss: Die Szenen, in denen William May sich selbst verletzt, sind detailliert und stark, bisweilen abstoßend für sensible Gemüter. Wer mit diesem Thema ein Problem hat, sollte das Buch möglicherweise nicht lesen.