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Die Halls sind eine eigentlich recht durchschnittliche britische Familie, aber hinter der Fassade brodelt es. Jean hat seit Längerem eine Affäre mit David, einem ehemaligen Arbeitskollegen ihres Mannes. George Hall ahnt bislang noch nichts davon. Er ist seit kurzem im Ruhestand und versucht, sich die ungewohnte freie Zeit durch verschiedene Aktivitäten zu vertreiben. Katie, die Tochter, ist alleinerziehende Mutter eines Sohnes und möchte nun zum zweiten Mal heiraten - sie ist sich aber nicht sicher, ob Ray auch wirklich der richtige ist. Jamie, der Sohn, ist homosexuell und sich ebenfalls nicht ganz sicher, ob sein Freund Tony der Richtige ist, denn Jamie möchte sich nicht wirklich binden, obwohl er sich das nicht eingestehen möchte. So weit, so normal - was klingt wie Stoff für eine gehobene Soap-Opera oder einen humorvollen Familienroman, wird durch ein paar Quadratzentimeter Haut doch zu etwas Besonderem.
George entdeckt besagte Quadratzentimeter merkwürdig veränderter Haut auf seiner Hüfte. Sofort ist der 61-jährige davon überzeugt, an Hautkrebs erkrankt zu sein und sterben zu müssen. Der besagte "wunde Punkt" an Georges Hüfte gibt dem neuen Roman von Mark Haddon seinen Titel. Die Zweideutigkeit dieses wunden Punktes wird im englischen Originaltitel "A Spot of Bother" noch besser eingefangen, denn so ziemlich alle Figuren in der Geschichte haben mit einem wunden Punkt, einem Problem, einem Stein des Anstoßes in ihrem Leben zu kämpfen. George steigert sich immer weiter in seine Krebs-Panik hinein, auch nachdem ein Hautarzt ihm bescheinigt hat, dass es sich nur um ein harmloses Ekzem handelt. Er versinkt nicht nur in "harmlose" Depressionen - George droht ernsthaft den Verstand zu verlieren. Die chaotischen Vorbereitungen für Katies Hochzeit, Jamies Beziehungsstreit und Jeans Affäre, das alles spitzt sich immer weiter zu. Dieser ganz normale Familienwahnsinn hat äußerst komische, wahnwitzige Szenen, in denen Mark Haddon zu gewohnter Form aufläuft, so dass man stets mit einem lachenden und einem weinenden Auge umblättert. Am Ende des Buches darf der Leser immerhin aufatmen, obwohl es kein typisches Happy End gibt. Aber alle Figuren, so viel darf verraten werden, dürfen eine Art Katharsis durchmachen.
Mark Haddon wurde für seinen bezaubernd-genialen Roman "Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone" von Kritikern und Lesern zu Recht gefeiert. "Der wunde Punkt" ist weniger bezaubernd, ebenso ernsthaft und scheint, wenn einem das Thema nicht liegt, streckenweise fast belanglos. Man braucht unbedingt Zugang zu der Romanfigur George, sonst bleibt der Roman mit seinen Ehe- und Beziehungsproblemen fast mittelmäßig. George aber reißt alles heraus und hebt das Buch auf ein schmerzhaft-gutes Niveau. Die Beschreibung, wie der ältere Mann langsam ins Bodenlose fällt, ist schmerzlich und traurig. Vor allem eine seitenlange, sehr detaillierte Szene, in der George sich selbst verstümmelt, geht ans Herz und ist in ihrer Intensität kaum geeignet für Leute, die selbst mit Depressionen kämpfen. Die anderen Hauptpersonen - Katie, Jamie und Jean - sind nicht weniger gut beschrieben, bloß müssen sie hinter Georges raumgreifender Entwicklung zwangsweise etwas zurückstecken. Mark Haddon hat jedes Familienmitglied und seinen wunden Punkt ausgezeichnet charakterisiert. Er wechselt oft die Erzählperspektive und lässt den Leser so abwechselnd Kapitel für Kapitel am Seelenleben jeder einzelnen Person teilhaben. So wird unter anderem deutlich, wie unterschiedlich Sichtweisen von ein und derselben Sache sein können.
"Der wunde Punkt" ist amüsant, traurig und durchgehend recht unterhaltsam; die Genialität und Frische von "Supergute Tage" geht dem Buch allerdings ab. Fairerweise muss gesagt werden, dass ein direkter Vergleich allein wegen der vollkommen unterschiedlichen Inhalte nicht funktioniert. Für sich betrachtet ist "Der wunde Punkt" ein gelungener, scharfsinniger Roman. Wer sich von den Themen angesprochen fühlt, die Mark Haddon anschneidet - Wendepunkte im Leben, Liebe, Beziehungen, Lebensplanung, Angst, Schuld und Vergebung - wird das Buch sicherlich mögen, auch Freunde von typisch britischem Humor kommen auf ihre Kosten. Wer jedoch einen zweiten schriftstellerischen Coup im Stil von "Supergute Tage" erwartet, der wird vielleicht enttäuscht sein.