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Eine Verfassung, so schloss einst der Revolutionär Thomas Paine, habe keine ideale, sondern eine reale Existenz, und sei sie nicht in sichtbarer Form festgehalten, gäbe es sie nicht. Ob nun schriftlich fixiert oder durch Gewohnheitsrecht gezeitigt - eine gesellschaftlich anerkannte Verfassung muss sich in Symbolen, Ritualen und sichtbaren Zeichen widerspiegeln. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, diesem in der Geschichtswissenschaft vieldiskutierten Staatsgebilde, das als Kontinuität zwischen Mittelalter und Neuzeit bis ins napoleonische Zeitalter überdauerte, war die Symbolik von besonderer Bedeutung, und entsprechend ausgeprägt. Zepter und Reichsapfel, Thron und Baldachin, Ölung und Handreichung waren dabei die sichtbarsten und am leichtesten zu entschlüsselnden Symbole, deren Bedeutungen sich jedoch im Lauf der Zeit immer wieder wandelten. Denn auch das Reich wandelte sich angesichts der ungeheuren Veränderung, die die Neuzeit mit sich brachte: Von der konfessionellen Spaltung bis zum Dreißigjährigen Krieg, von den Türkenkriegen bis zur französischen Revolution - die Herausforderungen änderten sich ebenso wie die Rolle des Kaisertums im Reich, das weder Territorialstaat noch bloßer Staatenbund war.
Barbara Stollberg-Rilinger, Professorin für Neuere Geschichte in Münster, hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Symbole einer neuen Betrachtungsweise zu unterziehen. Sie erzählt eine Verfassungsgeschichte des Römischen Reichs in der Frühen Neuzeit anhand seiner Symbolsprache. Vier Eckdaten hat sie sich herausgesucht, an denen die Symbolik des Kaisertums, seine Herleitung aus der cäsarischen Antike und sein Anspruch, das letzte und endgültige Weltreich der Christenheit zu sein, deutlich werden: das Reichskonkordat in Worms 1495, der Reichstag in Augsburg 1530, die Krönungsfeiern in Regensburg 1653/1654 und die Jahr 1764/65, als das Kaisertum längst zu einem Anhängsel habsburgischer Machtentfaltung geworden war.
Diese vier für das Reich sehr wichtigen Jahre stellt Stollberg-Rilinger anhand der Umzüge und Symboläußerungen dar, zeigt die jeweiligen Vorbedingungen und die Taktiken der kaiserlichen Partei, die sich über die Wirkung der Machtsymbolik, über die Magie des Kaisertums und seiner Geschichte sehr wohl im Klaren war. Das gespannte Verhältnis zwischen Kirche und Thron, zwischen Kaiser und Kurfürsten wird dabei immer wieder in Unterwerfungsgesten, Rangfolgen und symbolischen Handlungen deutlich, und nicht selten entschied die Frage, wer neben dem Pferd des Kaisers laufen durfte, über ganze politische Neuausrichtungen, Kriege und Gesetze.
Die faszinierende Ausführung dieser Gedanken, der originelle Aufbau und der kluge und sehr lesbare Stil der Autorin machen das Buch zu einem Genuss für historisch Interessierte. Man erfährt eine Unmenge an Details über das Reich in der Frühen Neuzeit, die in anderen Darstellungen oft unter den Tisch fallen, und kann sich sehr viel besser in die damalige Zeit hineindenken. Die anschauliche Darstellung mag ein Hinweis darauf sein, warum Stollberg-Rilinger 2005 mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet wurde - lebendige, fassbare Geschichte, wie man sie selten zwischen zwei Buchdeckeln findet. Eine klare Empfehlung!