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 Die Besiegten

Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs

Autoren: Robert Gerwarth
Übersetzer: Alexander Weber
Verlag: Siedler

Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Bildqualität
Preis - Leistungs - Verhältnis
2018 jährt sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. Einen echten Grund zum Feiern bietet dieses "Jubiläum" bei genauerer Betrachtung allerdings nicht: Der Krieg war im Herbst 1918 im Großen und Ganzen zu Ende, doch wer - vom scheuklappengesteuerten Geschichtsunterricht geprägt - glaubt, damit sei eine Phase des Friedens und der Demokratie in Europa und an den anderen ehemaligen Weltkriegsschauplätzen eingekehrt, irrt sich.

Robert Gerwarth, ein in Oxford promovierter, aus Deutschland stammender Historiker, der in Dublin lehrt, zeigt in seinem neu erschienenen Buch auf, welch unmittelbare mörderische Folgen der Erste Weltkrieg zeitigte. Vor allem die Verlierernationen mit ihren teils gewaltigen Gebiets- und Bevölkerungsverlusten, doch auch die neu entstandenen mehr oder weniger ethnisch oder religiös homogenen Nationalstaaten wurden bis etwa 1923 nicht von kriegerischen Konflikten verschont - ob es sich nun um Bürgerkriege wie zum Beispiel in Russland, um bürgerkriegsähnliche Zustände wie in Deutschland oder um Kriege zwischen verschiedenen Staaten handelte - der wohl erbittertste hiervon war der Griechisch-Türkische Krieg. Und auch manche "Siegermacht" blieb von solchen Auseinandersetzungen nicht verschont, erwähnt sei hier beispielhaft Italien.

Nein, Frieden brachten die in und um Paris geschlossenen Friedensverträge und Waffenstillstände keineswegs. Gerade die Staaten, die von den Siegermächten mit teils horrenden Flächenverlusten abgestraft worden waren und erhebliche Teile einer ihnen ethnisch zugehörigen Bevölkerung jenseits ihrer neuen Grenzen wiederfanden, drängten teils gewaltsam auf Revision. Darüber hinaus kam es in einer ganzen Reihe von Ländern zu revolutionären Umstürzen, und das keineswegs im Sinne eines erstarkenden welt- oder wenigstens europaweiten Demokratiebewusstseins: Wie der Autor am Ende des Buchs anmerkt, gab es in Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs weniger Demokratien als am Ende des Ersten.

Mit "Niederlage", "Revolution und Konterrevolution" und "Imperialer Zerfall" werden die drei großen, in einzelne Kapitel gegliederten Teile des Buchs betitelt. Die Titel zeigen auf, dass Gerwarth die Jahre ab 1918 - teils mit Vorgeschichte, denn manche nachfolgenden Ereignisse lassen sich etwa ohne den Frieden von Brest-Litowsk nicht zu verstehen - aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. In dem äußerst gründlich recherchierten und breit angelegten Buch (wovon nicht zuletzt über hundert Seiten Anhang zeugen) macht Gerwarth die komplexen Machtgeflechte, ethnischen und religiösen Gefüge, gegenseitigen Verpflichtungen, historischen, ideologischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen und andere Komponenten des giftigen Cocktails verständlich, der seine mörderische Wirkung in etlichen ohnehin geschundenen Nachkriegsstaaten entfaltete.

Manche dieser Konflikte, die zum Teil auf die Schaffung künstlicher Staatengebilde zurückgeführt werden müssen, schwelen oder entladen sich heute noch - und ihre Ursachen lassen sich dank Gerwarths Erläuterungen für bislang verständnislose, anderswo und später Geborene nachvollziehen. Hierzu gehören unter etlichen anderen die Probleme auf dem Balkan, Hass und Angst der baltischen Staaten sowie Polens in Bezug auf Russland und vor allem der Nahe Osten als dauerhaftes Pulverfass. Der Autor versteht es, auf exzellente Weise Zusammenhänge zu erschließen und - was natürlich seiner Aufgabe als Wissenschaftler entspricht - Ereignisse, Abläufe und Entwicklungen wertungsfrei zu präsentieren.

Auch manches Ereignis, das im Großen und Ganzen aus dem Fokus der Aufarbeitung des frühen 20. Jahrhunderts verschwunden ist wie etwa der Griechisch-Türkische Krieg, der Griechenland finanziell ausblutete und sich ebenfalls bis heute auswirkt, findet eine angemessene Betrachtung und Interpretation. Gerade indem Gerwarth das Augenmerk auf große wie auch in sonstigen Publikationen eher zur Fußnote reduzierte kleine Akteure (Bulgarien, Ungarn!) richtet, ersteht vor dem Leser das ganze Ausmaß der schwärenden, nur von einem kleinen Friedenvertragspflaster und meist nicht eingehaltenen Völkerbund-Versprechen bedeckten Wunden in weiten Teilen Eurasiens und darüber hinaus - auch Japans Imperialismus bleibt nicht unbeachtet.

Wie bereits erwähnt, hat der Autor das Buch ausgesprochen breit angelegt, und auf dieser Basis, ergänzt durch etliche Fotos und Kartenmaterial, wird für den Leser verständlich, auf welche Weise der Same des Zweiten Weltkriegs keimen konnte und angesichts der vielen noch ungelösten oder neu aufgeworfenen Konflikte auch keimen musste. An keiner Stelle wird die Lektüre langweilig - ein so gut geschriebenes wie bedeutendes Buch!

Einen Blick ins Buch bietet die Verlagsseite.

Hier finden Sie Links zur Rezension zu Gerwarths Heydrich-Biografie und zu einem Interview mit dem Autor.

Im Zusammenhang mit dem oben rezensierten Buch könnte auch diese Rezension von Interesse sein.

Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 23. Januar 2017 | ISBN: 9783827500373 | Originaltitel: The Vanquished. Europe and the Aftermath of the Great War | Preis: 29,99 Euro | 479 Seiten | Sprache: Deutsch

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