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"Die meisten Menschen möchten lernen, sich besser erinnern zu können; für Noel Burun bestand die größte und lästigste Aufgabe darin, vergessen zu lernen - doch nicht nur die schmerzlichen Dinge des Lebens, die wir alle ausgelöscht wissen wollen, sondern die Dinge im Allgemeinen."
Wann immer der introvertierte Noel nämlich eine Stimme hörte oder ein Wort las, bildeten sich in seinem Kopf vielfarbige Formen, die ihm als Markierungen und Landkarten dienten und ihm dabei halfen, sich noch im winzigsten Detail an ein Gefühl, eine Stimmung, einen Tonfall und die Worte selbst zu erinnern, die Ereignisse betrafen, die bis zu drei Jahrzehnten zurücklagen.
In seinem Roman "Die Gedächtniskünstler" erzählt der kanadische Schriftsteller Jeffrey Moore ("Der Kuss des Toren", 2003) die Geschichte von Noel Burun, der nichts vergisst, sondern alles erinnert und die Welt als endlos explodierendes Farb- und Bildfeuerwerk wahrnimmt - ein genialer Geist mit phänomenalem Gedächtnis, ein Synästhesist, der die Vorstellungsgabe einen großen Künstlers und Wissenschaftlers hat. Gleichzeitig berichtet Moore aber auch von Noels Mutter Stella, einer hoch gebildeten Frau, die mit 56 Jahren an Alzheimer erkrankt, alles vergisst und nichts erinnert und dazu verdammt scheint, einen langen langsamen Tod zu sterben.
Darüber hinaus ist dies die Geschichte von Norval Blaquière, einem Schauspieler und Schriftsteller, wohnhaft in Montreal, Dandy und Verehrer Lord Byrons, Liebhaber romantischer Literatur, Kunst und Kultur. Er ist Noels Freund, sein Alter Ego und Ebenbild. Auch Samira Darwish ist Protagonistin in Moores Roman, eine Frau mit tiefer, voller Stimme, die indigoblaue Diamanten mit blau gesäumten Rändern in Noels Kopf entstehen lässt und Norvals Opfer sein soll - bei einem Projekt namens "Alpha-Bett": Für ein Kunststudium verpflichtet sich Norval, innerhalb von sechs Monaten so viele Frauen zu verführen, wie das Alphabet Buchstaben hat.
Der vierhundert Seiten lange Roman des kanadischen Autors erweckt den Eindruck, halb dokumentarisch zu sein. Ein Großteil des Textes besteht aus fingierten Tagebuchaufzeichnungen, Literaturzitaten und Zeitungsartikeln. Ein erfundener Wissenschaftler kommentiert das Geschehen in Fußnoten. Das schafft Abwechslung beim Lesen und ist so gut gemacht, dass man zunächst glatt darauf reinfällt. Allerdings wirken gerade die Tagebucheinträge und die Zeitungsartikel, die am Ende des Buches die Geschichte auflösen, mitunter zu konstruiert.
Insgesamt handelt er sich um einen intelligenten Roman, der mit literarischen Zitaten, Sprache und Erzählstruktur spielt und sich voller Virtuosität und Verve mit Literatur und Dichtung, Alchemie und Neurowissenschaft, schwarzer Romantik und Fortschrittsglauben auseinandersetzt. Dabei schwankt Jeffrey Moore geschickt zwischen Spott und Ernst. Der Autor, der seine Eltern beide an Alzheimer verlor, regt den Leser dazu an, über Nutzen und Nachteil der Erinnerung für das Leben nachzudenken.