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 Die Wahrheit und die juristischen Formen


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Michel Foucault - französischer Philosoph - wird hier mit einer fünfteiligen Vorlesung veröffentlicht, die er im Mai 1973 an der Universität in Rio de Janeiro gehalten hat. Es geht um die Zusammenhänge zwischen historischen Strategien der Rechtsprechung und der Wahrheit.
Wahrheit, so Foucault in der ersten Vorlesung, sei die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Diese Wahrheit habe eine Geschichte, und mit der Geschichte der Wahrheit veränderten sich nicht nur die Erkenntnisobjekte, sondern auch die Erkenntnissubjekte. Dass das Subjekt nämlich unveränderlich sei, verleugnet Foucault so vollständig, dass er vom Tod des Menschen sprach, allerdings nur vom Tod desjenigen Menschen, der damals in der öffentlichen Meinung in dieser Gestalt geprägt wurde: des letztendlich unveränderlichen, erkennenden, vernunftbegabten Subjekts. In seinen historischen Analysen - und auch in diesen Vorlesungen - zeichnet Foucault nach, dass der Mensch schon zahlreiche Tode gestorben ist und immer wieder, aber in anderer Form, neu aufgetaucht ist.
Nicht nur darauf kommt Foucault in der ersten und den folgenden Vorlesungen zu sprechen. Er verdeutlicht in sehr knapper Form seine Methode und führt diese dann immer wieder exemplarisch vor. Die Methode beruhe auf der Analyse von etwas, was man als strategische Spiele bezeichnen könnte, oder - so Foucault lakonisch - als Kampf. Die Gesamtheit nennt er Diskurs: Dieser bestehe aus sprachlichen Phänomenen und zugleich aus Polemiken und Strategien.
Wahrheit, strategische Spiele und Konstitution des Subjekts sind die drei Achsen, auf denen Foucault seine Vorlesungen aufspannen möchte. Doch zunächst führt er seine methodologischen Überlegungen weiter aus. Wie kaum sonst in seinem Werk, zwei, drei Aufsätze ausgenommen, spricht Foucault über den Denker, der ihn wohl am meisten beeinflusst hat: Nietzsche. Auch deshalb ist diese Vorlesung eine große Ausnahme. Nietzsche wird hier auf den Begriff der "Erfindung" hin gelesen; die Erfindung sei tätig gewesen, als die Erkenntnis auf die Welt gekommen sei, und die Erkenntnis habe somit keinen Ursprung, sondern sei ein reiner Bruch gegenüber dem Vorher, in dem es noch keine Erkenntnis und auch keine Vorstufe der Erkenntnis gegeben habe. Foucaults Gedanke dabei ist simpel: Mehrere Kräfte oder Triebe haben umeinander gekämpft, und im rechten Augenblick und durch einen gewissen Zufall begünstigt sei dann etwas erfunden worden. So interpretiert Foucault Nietzsche, so analysiert er auch die Wahrheit in Bezug auf die juristischen Formen.
In der zweiten Vorlesung steht SophoklesÂ’ Tragödie um König Ödipus im Mittelpunkt der Analyse. Foucault weist hier auf alte Verstrickungen zwischen Macht und Wissen hin und auf den Ursprung der Legende, dass wahres Wissen nur dort erscheine, wo es keine Macht gibt. Diese Legende gelte es zu überwinden. Dann, in der dritten Vorlesung, führt Foucault aus, wie eine alte juristische Form - Foucault nennt sie épreuve, die Probe - von einer neueren juristischen Form abgelöst wird, der enquête, der Untersuchung. Während die Probe noch wie ein Zweikampf funktioniert - wahr ist, was den Kampf durch einen Sieg beendet -, so ist die Untersuchung eine Form, die sich auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen beruft und in der selbst die Natur und die Materie dazu gebracht werden, ihre in ihnen schlummernde Wahrheit zu gestehen. In der Zeit, in der die Untersuchung mehr und mehr aus der Kirche in den Staat und von dort in die Wissenschaften gelangte, begannen die großen "Entdeckungen" der Neuzeit.
In der vierten Vorlesung steht eine dritte juristische Form im Mittelpunkt, die Prüfung (examen). Mit ihr verbindet Foucault die Wandlung der Entstehung der Disziplinargesellschaft. Die fünfte Vorlesung behandelt den berühmten Begriff des Panoptismus, der den Foucault-Lesern aus dem Buch "Überwachen und Strafen" geläufig ist.
Die abschließende Diskussion mit den Zuhörern bietet ebenso erhellende wie neue Gedanken an. Zunächst dreht sich die Diskussion um die Psychoanalyse und hier vor allem um das ein Jahr vorher erschienene Buch "Anti-Ödipus" von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Erst später kommt das Seminar dann auf bestimmte kritische Punkte der Vorlesung zu sprechen.
Der Band schließt mit einem kenntnisreichen Nachwort von Martin Saar. Saar verortet die kleine Vorlesungsreihe in Foucaults theoretischem, aber auch politischem Schaffen. Er weist auf die Spuren von Nietzsche in Foucaults Werk hin und erläutert kurz Begriffe wie Recht, Gefängnis und Kritisches Wissen.

Foucaults kritische Analysen mag man oder man mag sie nicht. Wer dieses Buch liest, wird mehreres entdecken: So wundervoll, wie Foucault schreibt, so brillant trägt er auch vor. Diese Vorlesung lässt daran keinen Zweifel. Die enge Verknüpfung zwischen Forschungsmethoden und inhaltlichen Untersuchungen, der knappe Überblick über wichtige historische Abfolgen machen dieses Buch zudem zu einer guten, klaren Einführung in das Werk Foucaults. - Foucault ist zwar immer interessant, aber selten hat Foucault solchen Spaß gemacht.

Frederik Weitz



Taschenbuch | Erschienen: 01. August 2003 | ISBN: 9783518292457 | Originaltitel: La vérité et les formes juridiques | Preis: 9,00 Euro | 186 Seiten | Sprache: Deutsch

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