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 Die gefühlte Moral

Warum wir Gut und Böse unterscheiden können

Autoren: Frank Ochmann
Verlag: Ullstein

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Anspruch
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Preis - Leistungs - Verhältnis


Seit Jahrhunderten wogt der Streit, ob der Mensch zum Guten oder zum Bösen bestimmt sei, und ob er bei seiner Geburt gewissermaßen ein unbeschriebenes Blatt sei, auf das die Gesellschaft ihren Text schreibe, oder ein Bündel von genetischen Anlagen, dem allenfalls die Illusion von Willensfreiheit bleibe.

Frank Ochmann bringt den Leser auf den neuesten Stand der Wissenschaft, indem er darstellt, was insbesondere die Genetik, die Neurowissenschaft und die Entwicklungspsychologie zu diesem Thema zu sagen haben:

Der Mensch kommt nicht mit dem Wissen auf die Welt, was gut und böse ist, wohl aber mit der Bereitschaft, es zu lernen. Zu seiner kognitiven Grundausstattung gehört die Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen, zur spontanen Hilfsbereitschaft, zur Unterscheidung zwischen "Wir" und "Sie", zum teleologischen Denken (die unwillkürliche Verbindung zwischen der Wahrnehmung eines Sachverhalts und einer ihn verursachenden Absicht) und zur Erlernung von Regeln des Sozialverhaltens.

Wie die neuere Hirnforschung nachweisen konnte, empfinden Menschen es normalerweise als befriedigend, sich selbst als "gut" - das heißt als in Übereinstimmung mir dem gesellschaftlichen Regelsystem - zu erleben, oder sich dies zumindest vorzugaukeln. (Ihre Fähigkeit, Gefühlen eine rationale Begründung unterzuschieben, von Freud schon lange postuliert, lässt sich mittlerweile experimentell nachweisen.) Als befriedigend wird erlebt, was das gehirneigene Belohnungssystem aktiviert, das insbesondere auf soziale Anerkennung besonders stark reagiert.

Weichen Andere vom etablierten Regelsystem ab, so reagiert das Gehirn speziell von Männern mit dem Wunsch nach Bestrafung der Regelverletzer; die Beobachtung dieser Bestrafung wird als befriedigend erfahren. Bleibt sie regelmäßig aus, so wird dadurch die Geltung des Normensystems insgesamt in Frage gestellt - der Gesellschaft droht die Auflösung.

Da das moralische Regelsystem gesellschaftlich geformt wird, existiert kein a priori gegebenes Gottesgesetz. Damit ist die Gefahr verbunden, dass auch ganz und gar unmenschliche "Moral", etwa die des Nationalsozialismus, als ebenso verbindlich anerkannt wird wie in anderen Gesellschaften die zehn Gebote.

An dieser Stelle kann die Vielfalt der Themen, Gesichtspunkte und Forschungsergebnisse, die Ochmann seinen Lesern unterbreitet, bloß angerissen werden. Ochmann ist Journalist und ein begnadeter Schreiber. Er beherrscht die hohe Kunst, komplexe wissenschaftliche Thesen allgemeinverständlich darzustellen, ohne sie zu verflachen. Allein die Vielzahl der Experimente, von denen er berichtet, macht die Lektüre ungemein spannend.

Dabei gibt er dem Leser eine Reihe von Hilfen an die Hand, damit der nicht den Faden verliert: Insbesondere die klare Gliederung und die thesenartige Zusammenfassung am Ende jedes Kapitels erleichtern den Überblick.

Ochmanns Buch behandelt nicht mehr und nicht weniger als die Frage, wie Gesellschaft überhaupt funktioniert. Da seine Thesen umfassend empirisch fundiert sind und er ideologische Vorurteile souverän ignoriert, gelingt ihm das bei solchen Themen seltene Kunststück, für Anhänger praktisch jeder erdenklichen religiösen oder weltanschaulichen Richtung gleichermaßen interessant zu schreiben. Ein bisschen tritt er allen auf die Füße, aber niemandem so sehr, dass er deswegen das Gesamtwerk ablehnen müsste. Ob Christ oder Atheist, ob Linker oder Konservativer - jeder wird eine Fülle von Punkten finden, die ihn - auf seine je eigene Weise - zum Weiterdenken anregen.

Ein Meisterwerk.

Manfred Kleine-Hartlage



Hardcover | Erschienen: 1. März 2008 | ISBN: 9783550086984 | Preis: 19,90 Euro | 304 Seiten | Sprache: Deutsch

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