Nur sehr knapp sind Danny Torrance und seine Mutter Wendy vor vielen Jahren dem Overlook Hotel und dem Irrsinn von Jack Torrance entronnen. Inzwischen ist Danny ein erwachsener Mann und die Geister seiner Vergangenheit sind teilweise verstummt, aber ganz begraben sind sie nicht. Und obwohl Dan sich geschworen hatte, niemals so zu werden wie sein gewalttätiger Vater, ist er zum Alkoholiker geworden, stolpert ziellos von einem Besäufnis ins nächste, von einer schlimmen Verfehlung zur anderen. Auf dieser selbstzerstörerischen Reise gelangt Dan in das beschauliche Örtchen Frazier in New Hampshire. Hier glaubt er, endlich zur Ruhe kommen zu können. Dan Torrance findet Freunde und einen Job, er schließt sich den Anonymen Alkoholikern an und erfährt Respekt für seine Arbeit im Hospiz der Stadt. Dort wird er aufgrund seiner rätselhaften Fähigkeit, todkranken Menschen in ihren letzten Momenten den Abschied zu erleichtern, "Doctor Sleep" genannt. Fast niemand ahnt, dass Danny nicht bloß ein einfühlsamer Mensch ist, sondern dass er tatsächlich übernatürliche Fähigkeiten besitzt: Sein "Shining", das zweite Gesicht, ist zwar nicht mehr so stark wie in seiner Kindheit, aber immer noch vorhanden.
Doch während normale Menschen das Shining kaum wahrnehmen und nichts von seiner Existenz ahnen, gibt es in Amerika eine Gruppe uralter und bösartiger Gestalten, die es sehr wohl kennen - und für ihre Zwecke nutzen. Der "Wahre Knoten" ist eine umtriebige Gruppierung von übernatürlich begabten Monstern in der harmlosen Gestalt reisender Senioren, die ewiges Leben dadurch erlangen, das sie Menschen, die das Shining besitzen, foltern und töten. Vorzugsweise Kinder sind ihre Opfer, denn diese besitzen am meisten "Steam", den die Mitglieder des Wahren Knotens wie Vampire konsumieren und dadurch ihr Leben verlängern. Nicht nur Dan Torrance ist ein "Steamhead", sondern auch die zwölfjährige Abra, deren Shining extrem stark ausgeprägt ist. Zwischen dem jungen Mann und dem Mädchen entsteht eine außergewöhnliche, innige Verbindung, von der zunächst niemand weiß. Doch als der Wahre Knoten von Abras Existenz erfährt und begreift, wie viel Steam das Mädchen besitzt, beginnt eine mörderische Jagd.
Englischsprachiger Trailer zum Buch:
Stephen King hat eine ganze Reihe von Romanen geschrieben, die von seinen Fans immer wieder nostalgisch gefeiert, bewundert und wieder und wieder verschlungen werden, unter ihnen zum Beispiel "ES", "Brennen muss Salem" oder "The Stand", aber vor allem auch "Shining". Nun hat King eine Fortsetzung zu der grandios erschreckenden Geschichte geschrieben und damit endlich die Frage beantwortet, die wohl Millionen von Lesern sich hin und wieder gestellt haben: Was ist eigentlich aus Danny Torrance und seiner Mutter Wendy geworden, den beiden Überlebenden der grauenhaften Ereignisse im eingeschneiten Overlook Hotel?
Nicht zuletzt durch die Verfilmung von Stanley Kubrick hat "Shining" einen Kultstatus erreicht, der die Vorfreude auf "Doctor Sleep" umso größer werden ließ. Die bangen Fragen: Kann nach so vielen Jahren eine Fortsetzung gelingen? Wie ist es Danny ergangen, muss er sich erneut den Geistern der Vergangenheit stellen? Um es kurz zu machen: "Doctor Sleep" ist ein sehr spannendes, packendes Buch voller sympathischer, King-typischer Charaktere. Es ist eine Freude, Danny wiederzutreffen, auch wenn er mit dem niedlichen Jungen, der das Wort "Redrum" an einen Spiegel schrieb, nichts mehr gemein hat. Der erwachsene Dan in "Doctor Sleep" ist eine fast tragische Figur, die, obwohl noch jung, durch ihren massiven Alkoholismus bereits vor dem Abgrund steht. Es gibt eine berührende Szene im Buch, die dies drastisch vor Augen führt und die wahrscheinlich die beste im gesamten Roman ist - der Leser wird sie erkennen, wenn er sie liest.
Dannys Lebensweg erfährt schließlich eine schicksalhafte und ganz und gar nicht zufällige Wendung - denn Zufälle gibt es im King-Universum bekanntlich selten oder nie -, die ihn nach Frazier führt und die Schrecken der Vergangenheit noch einmal aufleben lässt. Diese Schrecken sind deutlich weniger subtil als in "Shining", aber dennoch verdammt gruselig. Die Mitglieder des "Wahren Knotens" sind so grausam wie reizvoll ausgedacht, denn jeder von ihnen besitzt ein besonderes Talent, das sie einsetzen, um Kinder zu entführen und zu töten. Anführerin der Wahren ist "Rose the Hat", eine direkt aus einem Albtraum entsprungene Figur, die nicht nur Dan und Abra eiskalte Schauer über den Rücken laufen lässt.
In "Doctor Sleep" lässt King sich zunächst viel Zeit, ein paar Stationen von Dan Torrance' steinigem Weg und seiner Genesung zu erzählen. Wenn Dan in Frazier endlich richtig angekommen und zuhause ist, ist der Leser es auch - dank der anschaulichen Erzählweise und der vielen Ereignisse fühlt man sich dort wie unter guten Freunden. Das gehört natürlich zu den großen Stärken Kings, die man immer wieder gerne liest: Kleinstädte und ihre Bewohner so gut zu beschreiben, dass man sich direkt in diesen Mikrokosmos hineinversetzt fühlt. Auch der Lebensweg Abras, den der Leser tatsächlich von ihrer Geburt an miterlebt, ist spannend und von langer Hand erzählt. "Richtige" Hochspannung bietet dann eigentlich erst der nervenzerreißende Showdown, was aber nicht heißt, dass das Buch vorher langweilig wäre. Im Gegenteil, am liebsten würde man Dan Torrance und Abra immer weiter begleiten, auch nachdem man die letzte Seite gelesen und das Buch zugeklappt hat. Es lohnt sich auf jeden Fall auch, das Nachwort von Stephen King zu lesen.
Kurzum: "Doctor Sleep" ist ein gelungener King-Roman und eine gute Fortsetzung von "Shining". Im direkten Vergleich fühlt das neue Buch sich aber völlig anders an - die Spannung wird aus anderen Elementen gezogen und ist psychologisch etwas weniger subtil und tiefgründig, auch fehlen die klaustrophobischen Momente, die die Situation im Overlook so beklemmend machten. Doch dies ist natürlich auch zu erwarten gewesen und kein Manko - zum einen hat Stephen King sich weiter entwickelt, seit "Shining" erschienen ist, zum anderen auch der Leser selbst. Ein packendes, unheimliches und sehr unterhaltsames Werk also!
Eine Leseprobe gibt es hier auf der Website des Verlags: "Doctor Sleep"