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Amir, der zwölfjährige, mutterlose Sohn eines wohlhabenden Kabuler Geschäftsmannes, entspricht überhaupt nicht den Vorstellungen seines Vaters: Er ist weder mutig noch sportlich und möchte am liebsten Schriftsteller werden. Wenn andere Jungen ihn piesacken, verteidigt ihn Hassan, der fast gleichaltrige Sohn des Hausdieners und sein bester Freund.
Immer wieder erniedrigt Amir den ihm treu und aufopferungsvoll ergebenen Hassan, auch deshalb, weil sein Vater, um dessen Achtung Amir vergeblich kämpft, Hassan offensichtlich sehr gern hat. Dennoch verbringen die beiden eine schöne und relativ unbeschwerte Kindheit. Diese endet abrupt an dem Tag, an dem Amir zum ersten Mal einen echten Erfolg erringt und mit Hassans Hilfe den traditionellen Drachenkampf in Kabul gewinnt. Hassan, der beste Drachenläufer, eilt davon, um Amir den gestürzten Drachen seines letzten Gegners als Trophäe zu holen. Dabei fällt er in die Hände von drei älteren Jungen, vor deren Quälereien er Amir bereits einmal bewahrt hat. Amir wird Zeuge ihrer schändlichen Rache an Hassan - und schreitet nicht ein.
Von nun an versucht Amir, die Erinnerung an diesen Tag und somit auch Hassan selbst aus seinem Leben zu verbannen. Dies scheint ihm zu gelingen, zumal sein Vater und er zu Beginn der sowjetischen Besatzung nach Amerika fliehen und sich dort ein neues Leben aufbauen. Amir studiert, und bald wird sein erster Roman veröffentlicht; er heiratet eine Exil-Afghanin.
Doch nach vielen Jahren, in Afghanistan führen mittlerweile die Taliban ihr mörderisches Regiment, holt die Vergangenheit Amir mit aller Macht ein. Er erhält die Möglichkeit, das an Hassan begangene Unrecht zum Teil wieder gutzumachen, und droht zunächst neuerlich zu scheitern.
Dieser sehr eindrucksvoll verfilmte Roman ist unmittelbar eingebettet in die dramatische jüngere Geschichte Afghanistans. Er schildert eine behütete Kindheit in der Zeit vor dem Einmarsch der Sowjets, als Afghanistan ein Königreich war und dort verhältnismäßig liberale Sitten herrschten, den brutalen Umbruch, die Schwierigkeiten, im amerikanischen Exil Fuß zu fassen, und schließlich die Willkürherrschaft der Taliban.
Vor allem aber geht es um eine ungleiche Freundschaft zweier Jungen: eines Mitglieds der gehobenen Schicht aus dem Stamm der Paschtunen, die in Afghanistan eine Vormachtstellung einnehmen, und seines kleinen Dieners. Dieser gehört zudem noch der verachteten Hazara-Minderheit an, besitzt aber, wie es sich für solch eine Geschichte gehört, wesentlich mehr Herz und Mumm als sein junger Herr, der ihn dafür auch noch abstraft. Und als Amir einmal die Möglichkeit, vielmehr Verpflichtung erhält, sich für Hassans bedingungslose Loyalität erkenntlich zu zeigen, versagt er erbärmlich.
Die Charaktere werden beinahe schwarz-weiß gezeichnet. Ich-Erzähler Amir blickt allerdings kritisch zurück auf die vergangenen Jahrzehnte, analysiert sie beim Revue-passieren-Lassen und ist sich seiner Schuld bewusst. Der Autor versteht es, farbig und mitreißend zu erzählen, zumindest bis zu jenem Abschnitt, der in Amerika spielt. Dieser wirkt ein wenig zu gedehnt und sentimental; es geschieht einfach zu wenig, und Amirs Persönlichkeit macht keine tief greifende Entwicklung durch.
Zur neuerlichen Wende kommt es erst gegen Ende, als der Anruf eines väterlichen Freundes Amir dazu bewegt, diesen zu besuchen, sich im Zuge seines Aufenthaltes nahe der alten Heimat seiner Verantwortung bewusst zu werden und sich schließlich seinen Dämonen zu stellen.
Dieser größtenteils meisterlich dargebotene Roman ist spannend ausgeführt und wirkt insgesamt glaubwürdig, auch wenn die Charaktere, wie erwähnt, vielleicht ein wenig zu extrem angelegt sind. Es lohnt sich auf jeden Fall, "Drachenläufer" zu lesen, stellt das Epos mit seinen autobiografischen Anklängen doch nicht nur die Auseinandersetzung eines einzelnen Menschen mit Schuld und Sühne vor, sondern auch eine der großen politischen Katastrophen unserer Zeit sowie eine bemerkenswerte, in Europa wenig beachtete und gewürdigte Kultur.