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Bisher beglückte uns Jan Weiler hauptsächlich mit seinen Kolumnen und den äußerst witzigen und auch erfolgreichen Romanen "Maria, ihm schmeckt?s nicht!" und dem Nachfolger "Antonio im Wunderland". Sein neues Werk "Drachensaat" ist zwar wieder witzig, schlägt aber einen völlig anderen Weg des Humors ein - so weiß man als Zuhörer bald nicht mehr, ob man lachen, weinen oder begeistert mit dem Kopf nicken soll vor lauter Zustimmung.
Die Handlung beginnt zunächst skurril: Ein Psychotherapeut versammelt fünf gescheiterte Existenzen in einem privaten Sanatorium. Sie alle sind in geschlossene Anstalten eingewiesen worden, weil sie in irgendeiner Form aus der Gesellschaft herausfielen und eine Tat begingen, die sie geradewegs in die Landesklinik brachte.
Der Busfahrer Ünal Yilmaz beispielsweise ertrug nach Jahren der Anfeindung und Unhöflichkeit seines Umfeldes seine Situation nicht mehr und begab sich auf Amokfahrt mit dem ihm anvertrauten Bus - inklusive aller Fahrgäste. Der Briefträger Arnold März trug vor Angst jahrelang keine Briefe mehr aus und hortete sie stattdessen in seiner Wohnung, bis diese unter dem tonnenschweren Gewicht zusammenbrach.
Der erfolgreiche Architekt Bernhard Schade wollte seinem Leben ein Ende setzen - und wählte die Bayreuther Festspiele, um sich dort mitten in der Vorstellung in den Kopf zu schießen. Diese und andere Schicksale haben die Menschen im "Haus Unruh" zusammengebracht, wo sie nun therapiert werden sollen. Dr. Heiner Zens, der behandelnde Arzt, möchte ein Experiment mit den Fünf wagen, was aber gründlich schief geht, denn die Gespräche mit Zens wecken in den Insassen ungeahntes Selbstbewusstsein. Sie brechen aus und starten ihr eigenes Experiment. Nichts Geringeres als eine neue Gesellschaft, eine neue Zivilisation wollen die fünf Gescheiterten auf die Beine stellen ...
Diese Geschichte beginnt eigentlich mitten im Leben. Menschen, die jahrelang neben ihren toten Angehörigen lebten, Briefträger, die jahrelang Post horten, Menschen, die auf einmal Stimmen hören - von solchen Fällen hat man zumindest schon mal gehört oder gelesen. Bemerkenswert ist, dass diese Personen eigentlich ziemlich normal sind und auch nicht unsympathisch. Zwar haben sie eine wahnwitzige Tat begangen, doch vorher waren sie unauffällig, wenn auch einsam - eben Briefträger, Sachbearbeiter, Architekten mitten unter uns. Doch ihnen ist gemein, dass die Gesellschaft sie zu Ausgegrenzten, Ausgeschlossenen, Gescheiterten gemacht hat. Sie alle haben im Leben versagt, obwohl sie nichts Schlimmes getan haben.
Nachdem das Hörbuch zu Beginn die Charaktere und ihre Lebensgeschichten vorstellt - und der Hörer sich nicht der Sympathie für sie erwehren kann, denn schließlich haben wir auch mit Michael Douglas in Falling Down sympathisiert, als er im Stau plötzlich durchdrehte - schwenkt die Geschichte im weiteren Verlauf um, nämlich als die Insassen ausbrechen, um ihren großen Plan, die neue, bessere Welt, zu verwirklichen.
Hier wird "Drachensaat" zur bitterbösen, brillanten Medien- und Gesellschaftssatire. Bemerkenswert gut gelungen ist Jan Weiler die Nachahmung der deutschen Medienlandschaft; so trifft er genau den jeweiligen Ton des Mediums, wenn er fiktive Beiträge aus FAZ, Bildzeitung oder ARD in die Story einbaut, die das Geschehen kommentieren.
Weilers Kritik an unserer Gesellschaft, an Politik und Zeitgeschehen kommt brandaktuell daher. In einer Zeit, in der Managergehälter, die klaffende Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Hartz-IV-Empfängern und Eliten und die angestrebte Chancengleichheit in der Bildung tagtäglich kommentiert und diskutiert werden, könnte diese Geschichte nicht passender sein, denn sie kommentiert all dies, hält uns einen Spiegel vor. Das tut bisweilen weh, sehr weh, und ist in grandiose Dialoge und Szenen verpackt. Wir alle wünschen uns eine Welt, die besser, freundlicher, gerechter und gleicher ist - nur tun wir zumeist nichts dafür. Weiler lässt in einem gelungenen Szenario die Verlierer der Gesellschaft auf einen ihrer Gewinner, einen Topmanager, ein Aushängeschild der deutschen Wirtschaft treffen. Das Ergebnis ist realistisch und deprimierend zugleich.
Das Hörspiel aus dem Hörverlag bietet eine Reihe bekannter Stimmen, unter anderem den Autor Jan Weiler selbst als Bernhard Schade, Matthias Haase als Dr. Heiner Zens, Annette Frier als Rita Bauernfeind, Baki Davrak als Ünal Yilmaz, Andreas Grothgar als Arnold März und Hartmut Stanke als Dr. Martin Barghausen. In weiteren Rollen überzeugen Bodo Primus, Edda Fischer, Martin Bross und weitere. Alle Sprecher machen ihre Sache sehr gut, und das Hörspiel ist mit recht dezenten Geräuschen unterlegt, die dem ganzen den Eindruck und die Akustik eines Kammerspiels verleihen.
"Drachensaat" ist skurril, witzig und gleichzeitig traurig, schlau ausgedacht, hochbrisant und ein Muss für alle, die sich mit unserer Gesellschaft zum aktuellen Zeitpunkt auseinander setzen. Eine unbedingte Empfehlung!