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Herr Gebhardt, Lehrer der "Heinrich-Heine-Schule", hat einen sehr höflichen Brief an die Jüdische Gemeinde Berlin geschrieben und um einen Vertreter dieser Gemeinde gebeten, anlässlich einer Unterrichtsstunde über sich und sein alltägliches Leben als Jude in Deutschland zu referieren.
Doch Emanuel Goldfarb, der von der Gemeinde gebeten wird, diese Einladung wahrzunehmen, will sich nicht "als ganz gewöhnlicher Jude" vor die Schüler stellen. Er beginnt einen Brief an Herrn Gebhardt zu schreiben, in dem er Gründe für seine ablehnende Haltung nennen will.
Goldfarb, 1959, also lange nach Kriegsende, geboren, beginnt einen zunehmend wütenden Monolog mit sich zu führen. Er sucht händeringend nach Argumenten, verliert sich aber in Gefühlen, Vergangenem, Geschichten und Geschichte. Seine Abrechnung mit "den Deutschen" wird eine Anklage, wird eine Abrechnung mit sich selbst, seinem Leben, dem seiner Eltern und der jüdischen Rolle, die er von Beginn an gezwungen wurde zu spielen und die er immer noch nicht bereit ist zu spielen. Er hat seine Frau und seinen Sohn durch dieses Scheitern verloren, sein eigenes Leben dieser Verweigerung untergeordnet.
Er beginnt mehr und mehr sein Verhalten auf den Prüfstein zu stellen und versucht sich und den imaginären Zuhörern der Unterrichtsklasse etwas Unerklärbares zu erklären: Was ist "ein ganz gewöhnlicher Jude" in Deutschland?
Die CD "Ein ganz gewöhnlicher Jude" ist die Originaltonspur des gleichnamigen Films von Oliver Hirschbiegel nach dem Buch von Charles Lewinsky. Da der Kinofilm 90 Minuten lang ist, die CD-Tonspur jedoch nur 69 Minuten, ist es eine gekürzte Version des Filmtons.
Ben Becker vermittelt gleich zu Beginn das Bild eines äußerst verletzlichen und dünnhäutigen Mannes, den seine Eltern, die Geschichte und immer wieder seine Mitmenschen zwingen ein typischer Jude zu sein. Fast sein ganzes Leben hat er diese Rolle verweigert und doch verinnerlicht. Ausgerechnet er, ein Journalist und Deutscher, soll vor Schülern "das Judentum" vertreten. Beckers Stimme variiert gekonnt zwischen nachdenklichen Anmerkungen, wütenden Tiraden und versöhnlichen Gedanken. Doch immer heftiger wird diese Auseinandersetzung mit sich selbst, immer verletzlicher, immer verletzter erscheint der von ihm "gespielte" Jude Goldfarb. Dass es sich um eine Tonspur eines Kinofilms handelt, ist fast nicht spürbar und kann vernachlässigt werden; Beckers Leistung ist grandios. Seine stimmliche Varianz, seine emotionale Präsenz und seine tiefgreifende Tragik vermittelnde Interpretation seiner Rolle ist über jede Kritik erhaben.
Dies kann man von dem Text, die Vorlage Lewinskys, nicht behaupten. Er versteht es zwar glänzend die üblichen Klischees "der Deutschen" über "die Juden" offen zu legen, die übliche Betroffenheit, die Politik und Öffentlichkeit an den Tag legt, wenn vom Judentum und der deutsch-jüdischen Vergangenheit die Rede ist - aber leider vermittelt auch der Autor dies mit Hilfe von Klischees. All zu oft sind seine Formulierungen zwar eloquent und intelligent, aber auch vorhersehbar und fast wie Weisheiten. Die Sätze, die so locker und flüssig aus Goldfarb heraussprudeln sind zu perfekt, zu sehr die Klischees anprangernd, zu treffsicher. Immer hat man das Gefühl, dass nicht ein Mann monologisiert, sondern dass ein Autor endlos gefeilte, bis ins letzte perfektionierte Sätze von sich gibt. Der Monolog täuscht vor eine Abrechnung zu sein. In Wahrheit ist es der intellektuelle Versuch, einen Juden in Deutschland idealtypisch herauszuarbeiten. Die Kritik, die Goldfarb an den Deutschen übt, lässt sich damit auch auf den Text von Lewinsky anwenden. Er öffnet ebenfalls eine Schublade, in die "der Jude" genau hineinpasst - bis zu seinem gefühlsmäßigen Widerwillen, seinen Sohn nicht zu beschneiden. Er wird zu einem idealtypischen Juden, zwar nicht dem des deutschen Betroffenheitsjournalismus, sondern zu dem "internen Juden", aus der Sicht "des Judentums". Damit aber wird auch er zu einem Klischee.
Dies ist zu bedauern, denn der Versuch, einen "Nachkriegsjuden" abrechnen zu lassen, ist sehr gelungen und grandios von Becker intoniert. Wäre nur dieser Jude gewöhnlicher, alltäglicher geworden.
Aber vielleicht ist ja genau das die Botschaft dieses Hörbuchs/Films? - Ein Jude kann nicht aus seiner Haut, auch "ein ganz gewöhnlicher Jude" ist eben kein gewöhnlicher Deutscher, sonder allenfalls ein Deutscher mit einer auf ihn einschlagenden 4000-jährigen Vergangenheit, der er sich nicht oder nur wenig entziehen kann.
Fazit: Hirschbiegels Film "Ein ganz gewöhnlicher Jude" und damit die hier besprochene Original-Tonspur ist ein Versuch. Ein gelungener Versuch mit Schwächen. Aber das scheint in der Natur des "beobachteten Gegenstands" zu liegen. Ein Jude lässt sich nicht vorführen, erklären, einordnen, ein Jude ist ein Zuviel an Geschichte, Geschichten und Erinnerungen, zu wenig "gewöhnlich". Weit mehr als manches Buch oder viele Filme, die versuchen dies zu thematisieren, gelingt es Hirschbiegel hinter dem "Lea-Rosh-Gesicht" Interesse zu wecken für die Situation eines Juden, den alle immer nur als Juden sehen. Dieses Hörbuch wird Ihnen lange in Erinnerung bleiben!