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Nach dem Tod des jugendlichen Protagonisten Donald in seinem Roman
"Superhero", schickt der neuseeländische Autor Anthony McCarten die überlebenden Mitglieder der Familie Delpe erneut ins Feld. Obwohl alle verzweifelt versuchen, die von Donny hinterlassene Leerstelle zu kompensieren und das Gefüge innerhalb der Familie neu zu justieren, befindet sich jeder auch ein Jahr später noch wie in einer Art Schockstarre. Mutter Renata chattet auf einer religiösen Webseite mittels eines virtuellen Beichtprogramms mit "Gott", weil sie nach einem Ratgeber sucht, der ihr dabei helfen kann, mit ihrem Verlust fertig zu werden. Ihr Mann Jim arbeitet zwar nach außen hin unbeirrt weiter in seiner von ihm mitbegründeten Anwaltskanzlei, ihm unterlaufen dabei aber immer häufiger kostspielige Verfahrensfehler, weil er mit seinen Gedanken ganz woanders ist. Zum Beispiel bei seinem erstgeborenen Sohn Jeff, der völlig in die Welt des Online-Rollenspieles "Life of Lore" abgetaucht ist. In dieser virtuellen Welt ist der eher unscheinbare Jeff ein angesehener Held, der Anderen zeigt, wie sie sich zurechtfinden können – eine Fähigkeit, die ihm selbst in der Realität mit drohendem Schulabbruch und einer Zukunft, die ihm zu entgleiten droht, nicht wirklich zu eigen ist.
Jeder Einzelne der übrig gebliebenen Familienangehörigen wirkt auf eigene Weise wie betäubt in seiner Trauer und Ratlosigkeit. Erst als Vater Jim sich aufmacht, seinen Sohn Jeff im Internet zu suchen, der ihm in der realen Welt verloren gegangen ist, kommt Bewegung in die erstarrte Gemeinschaft. Jim gewinnt dadurch auch im Leben an Aktivität, eine Eigenschaft, die seine Frau so vehement von ihm einfordert. Er beginnt sich den Dingen zu stellen, anstatt sie zu verdrängen oder ihnen auszuweichen. Dennoch hat es lange Zeit den Anschein, als ginge alles immer nur noch weiter bergab für die Delpes. Nicht zuletzt, weil Renata auch mit der plötzlichen Bewegung ihres Mannes nicht zurechtkommt. Für sie hat es den Anschein, als würde dieser Aufbruch auf eine Weise die Trauer um ihren Sohn Donald schmälern. Im Roman heißt es an einer Stelle: "Ein Leben hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende … nur nicht unbedingt in dieser Reihenfolge". Diese Aussage, die auch in der Struktur des Romans aufgegriffen wird, deutet an, dass man manchmal einem "wheel of fortune" gleich (das im elisabethanischen England die wechselhaften Geschicke der Menschen symbolisierte), erst ganz unten angekommen sein muss, bevor es wieder aufwärtsgehen kann. Schaffen es die Delpes am Ende ihr Leben neu auszurichten und trotz ihres Verlustes als Familie weiterzumachen? Das traurige Ende des Vorgängers "Superhero" hält bei der Beantwortung dieser Fragen in jedem Fall die Spannung aufrecht.
Anthony McCarten nimmt sich in seinen Romanen immer wieder aktueller und vielschichtiger Themen an. Seine Vorgängerromane befassen sich unter anderem mit kulturellen Differenzen und dem daraus drohenden Phänomen der Fremdenfeindlichkeit (
Englischer Harem), dem Verlust eines Kindes durch Krebserkrankung (
Superhero) oder mit Gewinnspielen, bei denen sich die Teilnehmer in Extremsituationen befinden (
Hand aufs Herz). Auch in seinem jüngsten Roman hat McCarten ein gegenwärtiges Thema dieser Zeit aufgegriffen. In "Ganz normale Helden" beleuchtet der Autor die zahlreichen Facetten und das vermeintliche Suchtpotential der vielerorts sehr emotionsgeladen diskutierten Online-Games im Internet. Jim Delpe, der eingangs gerade einmal in der Lage ist, ein Office-Programm zu bedienen, um die Schriftsätze für seine Kanzlei zu verfassen, entwickelt sich nach und nach aus für ihn dringlichen persönlichen Motiven zu einem gewandten Gamer. Diese eigene Erfahrung macht es ihm wesentlich leichter Verständnis für seinen zockenden Sohn aufzubringen und damit den trennenden Generationsgraben zu verengen.
Recherchiert hat Anthony McCarten für "Ganz normale Helden" mit vollem Körpereinsatz: Auf der Buchmesse 2012 in Frankfurt berichtet der Autor, er habe im Zuge der Recherchen für das Buch ein gesamtes Wochenende mit einem Computerspiel seiner Kinder zugebracht, zunächst nur, um ein Gespür für die Thematik des Romans zu entwickeln. Dabei sei er jedoch dem Sog des Spiels dermaßen erlegen, dass sogar alltägliche Notwendigkeiten, wie das Schlafen, vollständig in den Hintergrund traten. Die Authentizität, die er durch die eigene Erfahrung gewonnen hat, merkt man seinem Roman an, der dadurch einen Schwung und eine Geschwindigkeit erhält, die den Leser atemlos am Buch festhalten lassen. Interessant ist Anthony McCartens im Buch durchscheinender Ansatz, die gewonnene Erfahrung aus dieser Art komplexer Rollenspiele als Chance zu sehen, seine Handlungsmöglichkeiten auch im wirklichen Leben zu erweitern. Zumindest dann, wenn man in der Lage ist, eine Grenze zu ziehen und nicht vollständig in der virtuellen Welt abzutauchen. Mit dieser Sicht hebt er sich angenehm von den Meinungen ab, die Computerspiele per Pauschalurteil verdammen und ihnen eine verheerende, die menschliche Sozialkompetenz untergrabende Wirkung zuschreiben.
Zu dem anregenden Leseerlebnis trägt zudem, der zur Handlung sehr gut passende Erzählstil von "Ganz normale Helden" bei. Wenn Anthony McCarten Romane schreibt, dann ist das Genre, von dem er eigentlich kommt, immer deutlich zu erkennen. Als Dramatiker schrieb er unter anderem das Theaterstück "Ladies' Night", die Vorlage zu dem später erschienenen, von ihm allerdings nicht autorisierten Film "Ganz oder gar nicht". Dieser spielt in einer britischen Industriestadt und zeigt strippende Männer, die den Versuch unternehmen, den ärmlichen Verhältnissen der Arbeiterschaft im Norden Englands entgegenzutreten. Obwohl "Ganz normale Helden" ein Roman ist, erinnern der Schreibstil und die Form wegen ihres unmittelbaren Wesens an ein Theaterstück oder einen Film. Anthony McCarten bringt ein szenisches Element mit ein, das einen die Handlung sehr visuell erleben lässt. Dazu kommt die wechselnde Erzählperspektive, die sich nicht auf eine Figur konzentriert, sondern bei der jeder der Charaktere zu Wort kommt.
Fazit: Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass der zweite Teil einer Geschichte so gut ist, wie der Erste hat hoffen lassen. Nicht so hier: "Superhero" ist ein wunderbares Buch und "Ganz normale Helden" ist die perfekte Fortsetzung davon!
Eine Leseprobe steht auf der Webseite des Diogenes Verlags zur Verfügung.