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Unter einem Hobo versteht man in den USA jemanden, der mit einem Güterzug von Ort zu Ort reist, keinen festen Wohnsitz hat und sich meistens als Wanderarbeiter verdingt. Es handelt sich um ein regelrechtes Lebensgefühl, um eine spezielle Subkultur von Menschen, um die sich allerlei Gerüchte und Mythen ranken. Dazu trägt bei, dass die in Güterzügen Reisenden ihre eigene Sprache benutzen und einen eigenen Kodex besitzen. Berühmte Persönlichkeiten, die zumindest zeitweise als Hobos unterwegs waren, sind Jack Kerouac, Jack London und John Steinbeck.
Besonders aus Sicht mancher amerikanischer Gesetzeshüter sind die Hobos, vor allem bestimmte Gruppierungen unter ihnen, kriminelle Vereinigungen mit mafiaähnlichen Strukturen, die mehr als nur ein bisschen Dreck am Stecken haben und eine Bedrohung für andere darstellen. Anlass für solche Spekulationen bieten vor allem Ángel Maturino Reséndiz, ein Serienkiller und Hobo, und die Gruppierung "FTRA", die "Freight Train Riders of America", die sich in den 1980er Jahren gründeten.
Der Journalist und Autor Lucius Shepard hat dem Mythos der FTRA nachgespürt und seine Recherchen in Form der Reportage "Attack of the Freight-Train Riding Crazed Vietnam Vet Psycho Killer Hobo Mafia ... or Not" niedergeschrieben. Diese Reportage erschien in stark gekürzter Form erstmalig 1998 in der Zeitschrift
Spin. Die komplette Fassung gibt es nun in "Hobo Nation" nachzulesen. An die Reportage schließen sich die beiden Kurzgeschichten "Drüben" und "Die Ausreißerin" an, die ebenfalls das Hobo-Leben zum Thema haben.
Lucius Shepard, eigentlich eher bekannt im Bereich Fantasy- und Sci-Fi-Literatur, hat in seiner Reportage einen wohltuend unverklärten Blick auf die Subkultur der Hobos geworfen, die so manche Lagerfeuer-Romantik nüchtern, aber behutsam entlarvt. Viele scheinbar tiefsinnige Gespräche entpuppen sich so als heiße Luft, als Ergebnis massiven Alkohol- und Rauschmittelmissbrauchs.
Shepard ist auf den Güterzügen mitgereist, hat sich mit den Güterzug-Tramps unterhalten (und auch mit der Gegenseite, den Gesetzeshütern), hat an ihren Festen und Treffen teilgenommen - und dabei keine Mafia vorgefunden, sondern größtenteils normale Menschen, die ihre eigene Freiheit ausleben, wenn sie dabei auch am Rand der Gesellschaft stehen. Dabei traf Shepard Männer und Frauen mit so abenteuerlichen Namen wie "Missoula Mike" oder "Eriee Flash". Shepards Reise ist nicht nur ein Nachspüren der Frage, ob die FTRA tatsächlich eine Art Güterzug-Mafia ist, sondern auch eine Reise ins Herz Amerikas, in eine eigene, teils stark mystifizierte Kultur, die in den 1930er Jahren zur Zeit der amerikanischen Wirtschaftskrise ihre Blüte erlebte und die vielfach besungen und in der Literatur beschrieben wurde.
Sprachlich schreibt Shepard klar und unprätentiös, sowohl in seiner Reportage als auch in den beiden darauf folgenden Kurzgeschichten, die den größeren Teil des Buches einnehmen. Auch in ihnen spielen Hobos die Hauptrolle. Die Geschichten vermischen Fiktion und Realität auf faszinierende Art und Weise; das preisgekrönte "Drüben" ist eine Erzählung über eine Welt, die man nur mittels Güterzügen erreichen kann und in die der Hobo Billy Long Gone hineingerät. Diese Geschichte trägt klare Phantastik- und auch einige Horror-Elemente in sich, während "Die Ausreißerin" erzählt, wie der Hobo Madcat ein Mädchen, eine junge Ausreißerin, kennenlernt und wie die beiden so unterschiedlichen Menschen sich näher kommen.
"Hobo Nation" ist ein sehr spezieller Mix aus einer Reportage und zwei Novellen - sehr lesenswert und faszinierend, wenn man sich für den Hobo-Mythos interessiert.