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Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Frankreich der jüdische Artillerie-Offizier Alfred Dreyfus wegen Geheimnisverrats an die Deutschen angeklagt, schuldig gesprochen und zu lebenslanger Einzelhaft auf der berüchtigten Teufelsinsel verurteilt, einem unwirtlichen winzigen Eiland vor Südamerika. Zunächst schien Dreyfus' Verurteilung ein glasklarer Prozess gewesen zu sein - umso tiefer wurde Frankreich im weiteren Verlauf erschüttert, als sich nach und nach herausstellte, dass Alfred Dreyfus das Opfer eines gigantischen Justizskandals war, in den ranghöchste Mitglieder aus Militär und Politik verstrickt waren.
Die "Dreyfus-Affäre" ging in die Geschichte ein, dürfte heutigen Lesern aber nicht zwingend geläufig sein. Nun hat der britische Autor Robert Harris die Geschichte nach historisch wahren Begebenheiten in einen spannenden Politthriller verpackt, der die dramatische Geschichte um Alfred Dreyfus und vor allem um den damaligen Geheimdienstleiter Marie-Georges Picquart, der den Skandal maßgeblich aufdeckte, in allen packenden Details vor den Augen des Lesers Revue passieren lässt.
Robert Harris hat das Talent, Historie so gut aufzuarbeiten, dass auch aus minutiös geschilderten Ereignissen, die sich über viele Jahre hinzogen, ein rasanter Romanstoff wird, der gleichermaßen fesselt und unterhält. Bereits mit seiner als Trilogie angelegten, ungemein packenden Cicero-Biografie ("
Imperium", "
Titan") hat er dies unter Beweis gestellt, und auch "Intrige" ist eine großartige Geschichtslektion geworden, nur mit dem Unterschied, dass sie wesentlich spannender ist als eine durchschnittliche Unterrichtsstunde.
Tatsächlich enthält die Dreyfus-Affäre alle Zutaten für einen spektakulären Thriller: Intrigen, Verrat und Machtmissbrauch, Drohungen, Verzweiflung und Verlogenheit - und dies alles vor der politisch unruhigen Kulisse Frankreichs im ausgehenden 19. Jahrhundert. Einer Zeit, in der der Antisemitismus immer heftiger schwelte und dem Dreyfus-Prozess eine beunruhigende Dynamik verlieh.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht der französische Offizier Marie-Georges Picquart, einer der maßgeblich Beteiligten an der Affäre um Alfred Dreyfus. Picquart erzählt die verhängnisvolle Geschichte aus seiner Sicht. Zunächst noch recht unglücklich mit seinem neuen Posten als Leiter der Geheimdienstabteilung, entwickelt er bald detektivischen Spürsinn und Ehrgeiz, als er Ungereimtheiten bei der Verurteilung von Alfred Dreyfus entdeckt. Seinem starken Gerechtigkeitsgefühl verpflichtet, beginnt Picquart - obwohl selbst nicht gänzlich frei von antisemitischen Gedanken - nachzubohren und sich an seine Vorgesetzten zu wenden. Doch damit sticht er in ein Wespennest und droht bald selbst, in der Dreyfus-Affäre unterzugehen. Quälend langsam gehen die Ermittlungen voran, während der vermeintlich schuldige Dreyfus viele Tausend Kilometer entfernt unter den unmenschlichen Haftbedingungen dem Tod zunehmend näher ist als dem Leben.
Robert Harris schafft es, ein detailliertes und reizvoll beschriebenes Bild von Frankreich zur damaligen Zeit vor dem inneren Auge des Lesers entstehen zu lassen. Er hat dabei viele wissenschaftliche Darstellungen und zahlreiche Quellen bemüht, zugunsten der Spannung aber natürlich auch der Fiktion hin und wieder freien Lauf gelassen. Auch wer die Dreyfus-Affäre nicht in allen Einzelheiten oder gar nicht kennt, wird sicherlich einige Aha-Erlebnisse haben - etwa wenn der Schriftsteller Émile Zola in seinem berühmten offenen Brief "J'accuse!" den Justizskandal öffentlich anprangert.
Die politische Stimmung, die gesellschaftlichen Ereignisse und die Beschreibungen der Personen und ihrer Ansichten sind hochinteressant zu lesen. Zwar sind die Methoden des Geheimdienstes aus den 1890ern heute eher drollig zu nennen, wenn die Mitarbeiter stundenlang Schnipsel von Dokumenten aus dem Müll fischen und wieder zusammenkleben, was fast schon als Gipfel der Spionagekunst galt. Andererseits kommt dieses Szenario zu einer äußerst passenden Zeit und beleuchtet ein (wieder) hochaktuelles Thema, denn schon die Figuren in "Intrige" müssen erkennen, dass kein Geheimnis mehr sicher ist, dass es keinen privaten und geschützten Raum mehr gibt und dass alles ans Licht kommt - oder aber böswillig gefälscht, verzerrt und verdreht wird, bis ein Schuldiger gefunden ist.
"Intrige" erzählt die von 1894 bis 1906 dauernde Dreyfus-Affäre und den daraus resultierenden innenpolitischen und gesellschaftlichen Skandal, der Frankreich mehr als nur ein wenig erschütterte, äußerst plastisch und spannend. Neben purer Unterhaltung präsentiert Harris eine engmaschige Aufarbeitung des politischen Skandals und wirft damit zugleich die brandaktuellen Themen Überwachung, Geheimdienste und Whistleblowing wieder auf den Tisch. So macht Geschichte Spaß!
Eine Leseprobe gibt es hier auf der Website des Verlags.