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1996 schickte
Tad Williams seine Leser mit dem ersten
Otherland-Roman auf eine Reise in den Cyberspace, in eine Welt, die scheinbar alles bietet und alle Träume erfüllt – und die dadurch häufig Perversion, Gewalt und Chaos hervorbringt.
Eine ganz ähnliche Reise unternimmt man nun an der Seite des jungen Russen Ljonja im gerade auf Deutsch erschienenen Roman von Sergej Lukianenko ("
Wächter der Nacht" und viele weitere). Wichtig zu wissen ist, dass "Labyrinth der Spiegel" ebenfalls schon 1996 im Original erschien und erst jetzt (!) auf Deutsch erhältlich ist. Liest man das Buch mit den Augen von 1996 und mit dem Wissen des damaligen Standes der (Internet-)Technik, ist es eine grandiose Vision, die lediglich in der heutigen Zeit viel unspektakulärer wirkt, als es wohl damals der Fall war.
Der Roman spielt in einer nicht näher präzisierten, aber nicht allzu fernen Zukunft, in dem von einem findigen Entwickler mehr oder weniger zufällig ein Cyberspace mit dem Namen "Tiefe" erfunden wurde. Wer sich dort mit VR-Helm und Sensoranzug einklinkt, der vergisst die Wirklichkeit um sich herum und glaubt wirklich, sich in einer ganz anderen Welt aufzuhalten, die unendlich real erscheint, denn alle Sinneseindrücke sind wie im echten Leben, sogar das Essen sättigt (nichtsdestotrotz kann der Körper am Schreibtisch verdursten, während man sich in der
Tiefe befindet). Hier wird alles geboten – meist harmlose Vergnügungen, Bars und Freudenhäuser, Rollenspiele und Fantasie-Welten bekannter Romane wie etwa Tolkiens Mittelerde.
Ljonja ist ein so genannter "Diver": Die
Tiefe kann ihm nichts anhaben, er ist sich zu jeder Zeit bewusst, dass er sich im virtuellen Raum befindet und er kann jederzeit willentlich daraus auftauchen. Solche wie ihn gibt es nur extrem wenige, und er schützt seine Anonymität wie seinen Augapfel.
Dann bekommt Ljonja einen ungewöhnlichen Auftrag: Im Labyrinth der Schrecken, hinter dem sich nichts anderes als eine Weiterentwicklung des beliebten Ego-Shooters "Doom" verbirgt, sitzt ein User schon seit mehreren Tagen in einem Level fest. Scheinbar kann er nicht mehr hinaus, sein Computer-Timer – normalerweise eine unverzichtbare Rettungsleine, die den Spieler nach einer festen Zeit von selbst wieder in die Wirklichkeit holt – hat versagt. Ljonja wird losgeschickt, um den "Loser", wie er genannt wird, aus dem Labyrinth zu retten. Doch etwas ist völlig anders als sonst. Wer ist der Loser? Wieso kann er den virtuellen Raum nicht verlassen, warum wird er jedes Mal getötet, wenn er kurz vor dem Ausgang des Labyrinths ist – und warum sind plötzlich alle Einflussreichen und Mächtigen der Tiefe hinter ihm her? Für Ljonja beginnt das Abenteuer seines Lebens …
Sergej Lukianenko ist ein sehr produktiver Schriftsteller, der mit kreativen Ideen geradezu um sich wirft. Obwohl "Labyrinth der Spiegel" schon vor fast fünfzehn Jahren erschien, wirkt dieser Cyberpunk-Roman auch heute noch recht unverbraucht in seinen Ideen, auch wenn manches technische Equipment schon von der aktuellen Zeit eingeholt wurde. Lukianenkos Cyberspace, die
Tiefe, ist durchweg gut konstruiert und sehr glaubwürdig, weil er geradezu unspektakulär wirkt und Lukianenko die Ärgernisse des ganz normalen PC-Alltags – langsame Leitungen, zu wenig Festplattenspeicher, miese Grafikkarten – mit eingebunden hat. "The Deep" ist in Ljonjas Welt noch eine recht neue Entwicklung, die erst vor fünf Jahren erfunden wurde und die immer noch Neues und Überraschendes zu bieten hat. Die meisten Menschen nutzen die
Tiefe nicht für Gewalt und sexuelle Ausschweifungen – obwohl auch dies natürlich verfügbar ist -, sondern eher, um Freunde und Bekannte aus aller Welt zu treffen, um sich einen Firmensitz im virtuellen Raum zu erschaffen, um zu spielen, zu reisen, zu diskutieren und in fremde Identitäten zu schlüpfen - das Social Network und MMORPGs wie WoW lassen grüßen! (Einmal mehr sollte man nicht vergessen, dass der Roman lange vorher geschrieben wurde.)
Lukianenkos Vision von einer realistischen Virtual Reality ist schlüssig und wird jeden, der sich für Computer, für das Internet, für Games und Fantasiewelten interessiert, fesseln. Der Roman liest sich trotz seiner relativen Länge leicht und unterhaltsam; Lukianenko schlägt den für ihn typischen Plauderton an, der das eine oder andere Mal zum Schmunzeln reizt. Zwar wird es auch spannend, aber nie atemberaubend spannend, stets fühlt man sich an der Seite des Ich-Erzählers Ljonja gut aufgehoben und sicher. Wie in seinen anderen Romanen auch hat der Autor mit dem russischen Diver einen sehr sympathischen Allerwelts-Helden geschaffen, der kein ausgesprochener Hacker oder Computer-Crack ist, sondern äußerst normal, bis auf seine ungewöhnliche Gabe, den Cyberspace als solchen zu erkennen, wenn er sich darin befindet.
Dreh- und Angelpunkt des Romans ist der rätselhafte "Loser" und seine Herkunft – genau wie Ljonja rätselt man die ganze Zeit, was sein Auftauchen im Labyrinth zu bedeuten hat und warum er sich nicht einfach aus dem Cyberspace ausklinkt. Die Auflösung des Ganzen ist allerdings ein wenig enttäuschend und kann nicht ganz mit dem Rest mithalten. Man hätte hier noch mehr erwartet, einen regelrechten Paukenschlag zum Ende, doch den bietet Lukianenko dann nicht, zumindest nicht so intensiv, wie man ihn sich gewünscht hätte. Trotzdem ist "Labyrinth der Spiegel" ein spannender, flüssig zu lesender und sehr schlüssig aufgebauter Roman, der auch fünfzehn Jahre nach seinem Erscheinen ein glaubwürdiges Zukunftsszenario entwirft und einige interessante Fragen aufwirft, mit denen wir uns sicher noch auseinandersetzen werden: Was tun wir, wenn der virtuelle Raum uns eines Tages mehr zu bieten hat als das reale Leben? Was sind Gefühle im Cyberspace wert, gibt es die Liebe in der Virtualität, wohin wird uns die moderne Technik noch führen - und wird sie uns voneinander entfremden oder enger zusammenführen?
Ein lohnenswerter Roman, auch wenn der große Knall am Ende ausbleibt – stattdessen gibt es aber ein schönes, lesenswertes Ende, das den Leser versöhnt. Einziger Kritikpunkt bleibt der völlig überholte Veröffentlichungstermin in deutscher Sprache, der einige Wow- und Aha-Effekte beim Leser zunichtemacht, weil die Realität das Buch bereits eingeholt hat.