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New Hampshire, 1954: Der zwölfjährige Danny Baciagalupo tötet durch ein furchtbares Missverständnis die Geliebte seines Vaters, während die beiden Erwachsenen gerade beim Liebesspiel sind. Der Junge hält die Frau mit dem hüftlangen schwarzen Haar für einen Bären und erschlägt sie mit einer gusseisernen Bratpfanne. Für Dannys Vater, den Koch Dominic, ist sofort klar, dass Vater und Sohn das Holzfällercamp Twisted River noch in der gleichen Nacht verlassen müssen, und zwar für immer. Der Mann der Getöteten ist der gewalttätige Constable Carl, der Dominics Erfahrung nach nicht lange zögern wird, Rache zu nehmen. Für Vater und Sohn beginnt eine Odyssee durch Amerika und Kanada. Es wird eine Reise, die mehrere Jahrzehnte dauern und drei Generationen der Familie Baciagalupo umfassen soll – eine Reise voller Freude und Liebe, Angst und Trauer; eine Zeit, die geprägt ist von Schicksalsschlägen, neuen und alten Freundschaften und immer begleitet von der Furcht, dass die Ereignisse der letzten Nacht in Twisted River sich eines Tages bitter rächen könnten …
Lange hat es nach "Bis ich dich finde" gedauert, bis John Irving mit "Letzte Nacht in Twisted River" endlich einen neuen Roman vorgelegt hat. Herausgekommen ist ein echter Wälzer, der nicht nur 736 Seiten umfasst, sondern auch über 50 Jahre an Familiengeschichte. Es ist ein episches Werk geworden, halb Familiengeschichte, halb Road Movie, und bevölkert von unwiderstehlichen Charakteren, für die Irving einfach ein Händchen hat. Heimlicher Star des Romans ist der raubeinige Holzfäller Ketchum, der nach der Flucht von Dominic und Danny in Twisted River zurückbleibt; der Kontakt reißt aber nie ab.
Irving ist es immer wichtig gewesen, dass es in Romanen keine Zufälle gibt, und so ist es kein Wunder, dass er auch hier am Ende wie eh und je alle Fäden fest in der Hand hält und alles zusammenführt, was zusammengehört. Natürlich gibt es, ganz Irving-typisch, wieder eine Reihe von sehr skurrilen und merkwürdigen Begebenheiten und auch ein Wieder-Lesen mit vielen Elementen, die dem Leser inzwischen so ans Herz gewachsen sind: kein Irving-Roman ohne Bären, echte oder vermeintliche, so lautet auch hier die Devise. Außerdem treten merkwürdige Liebesbeziehungen, ganz und gar nicht stromlinienförmige Frauen, eine wichtige linke Hand, das College in Exeter und das Leben als Schriftsteller als solches in Erscheinung und tragen ihren wichtigen Teil zur Handlung bei. "Nebenbei" hat Irving im Laufe der langen Geschichte auch noch 9/11 verarbeitet; die politischste Figur im Roman ist eindeutig Ketchum, der des Öfteren seine Meinung über George Bush und die Regierung zum Besten gibt.
Im Vergleich zu Werken wie "Witwe für ein Jahr" oder "Garp und wie er die Welt sah" wirkt dieser Roman insgesamt weniger unmittelbar und sehr viel distanzierter, was ein wenig schade ist. Irving leitet den Leser mit leichter Hand und langem Atem durch die Geschichte der Baciagalupos, wobei man sich stets wie ein Beobachter fühlt, aber nur recht selten unmittelbar in einer Szene dabei. Irving macht große Zeitsprünge und erzählt sehr vieles als Rückblende – das heißt zum Beispiel, dass er am Anfang eines Kapitels den Tod einer der Hauptfiguren in den Ring wirft, und erst im Laufe des Kapitels erfährt der Leser nach und nach, was inzwischen geschehen ist. Das ist schriftstellerisch zwar großartig gelungen, lässt aber an manchen Stellen die Spannung und Dramatik vermissen. Immer wieder blitzen natürlich dann doch die herzzerreißenden, die genialen Momente durch, etwa wenn der Autor die Szene beschreibt, als Ketchum die tote Frau von Dominic Baciagalupo aus einem Wasserbecken birgt, oder als die nackte Fallschirmspringerin Lady Sky vom Himmel schwebt und Dannys kleinen Sohn zum Staunen bringt. Bei anderen tragischen Momenten, zum Beispiel dem Tod eines der Familienmitglieder, bleibt der Leser merkwürdig unbeteiligt und ungerührt, eben weil Irving manches so sehr aus der Distanz abhandelt. Das Ende des Romans ist sehr elegant und ein echter Kunstgriff, der alles noch einmal ein wenig in einem anderen Licht dastehen lässt.
John Irving zählt sicherlich zu den großartigsten Schriftsteller der Gegenwart, und auch "Letzte Nacht in Twisted River" ist ein großer Roman geworden – episch, voller Herz und Dramatik, skurril, scharfsichtig und abenteuerlich. Es ist allerdings, auch das muss man als Irving-Fan sagen, nicht sein bestes Buch.