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Es ist Nacht. August Brill, zweiundsiebzig Jahre alt, seit nicht allzu langer Zeit Witwer und Invalide, ehemaliger Literaturkritiker, liegt wach - wie so oft. Während seine Tochter Miriam und seine Nichte Katya vermeintlich schlafen, erfindet er Geschichten, um sich die Zeit zu vertreiben. So auch diese Nacht: Owen Brick, professioneller Zauberkünstler, erwacht in einem Loch. Als er aus diesem herausgeholt wird, stellt er fest, dass er sich zwar noch immer im Amerika des Jahres 2007 befindet, die Realität jedoch eine andere ist. Es herrscht kein Krieg im Irak und auch die Twin Towers stehen noch, stattdessen haben sich einige Staaten nach der Wahl im Jahr 2000 abgespalten. In den USA herrscht Bürgerkrieg. Owen Brick erfährt, dass diese Welt von einem Geschichtenerzähler erfunden wurde und dass er den Erzähler, nachdem er in seine alte Welt zurückgekehrt ist, umbringen soll, um dem Bürgerkrieg ein Ende zu machen. August liegt im Bett, erfindet eine Geschichte, in der der Protagonist, den Geschichtenerzähler töten soll, der August selbst ist. "Indem ich mich in die Geschichte einsetze, wird sie real. Oder aber ich werde unreal, zum bloßen Produkt meiner eigenen Phantasie." Nach einem Hustenanfall kommt die ebenfalls schlaflose Katya in sein Zimmer und es entwickelt sich ein Gespräch über längst Vergangenes und nicht allzu lang Vergangenes, über falsche Entscheidungen und noch immer offene Wunden.
Paul Austers "Mann im Dunkel" zeichnet ein Vexierbild, das Fiktion und Realität, Vergangenheit und Wahrheit geschickt miteinander verflicht. Über allem schwebt die Gegenwart: August Brill liegt schlaflos im Bett, und um nicht an seine an Krebs verstorbene Frau Sonia zu denken, erfindet er Geschichten. Doch nicht nur August muss Schicksalsschläge verkraften. Seine Tochter Miriam ist noch immer nicht über ihre Scheidung hinweg. Sie stürzt sich in ihre Arbeit, schreibt eine Biographie. Katya, die Enkelin, hat ihren Freund auf entsetzliche Weise verloren und flüchtet sich in exzessiven Filmkonsum. So hat jeder im Haus nicht nur seine offenen Wunden, sondern auch seine eigenen Methoden, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen beziehungsweise sich nicht von ihr übermannen zu lassen. Der erste Teil des Buches ist vor allem der Geschichte gewidmet, die sich August im Bett liegend ausdenkt. Es geht um Fiktion und Realitäten, darum, wie sie miteinander verwoben sind oder sein können. Der erste Teil zeigt eher eine abstrakte Herangehensweise an die Welt, das Leben, die Wirklichkeit - wenngleich die von Brill erfundene Geschichte durchaus konkret ist. Dieser Teil endet ziemlich abrupt: Die Realität in Form der fragenden und interessierten Katya taucht unvermittelt auf, und die Nacht wendet sich dem Vergangenen zu - das sehr direkt mit dem Leben verbunden ist. August erzählt Katya seine Geschichte und die Geschichte ihrer Großeltern. Wie real diese Geschichte ist, wird nicht direkt thematisiert und doch schwingt die Frage mit: Was ist real, was Fiktion? Sind wir alle unsere eigenen Geschichtenerzähler? Erzählen wir Geschichten, wie Katya es tut, die nicht wahr sind, uns aber wahr erscheinen?
Paul Auster spielt auf subtile Weise mit verschiedenen Ebenen der Realität, der Illusion: Zwei recht zusammenhanglos erscheinende Geschichten stehen nebeneinander. Zunächst sind diese nur durch den Protagonisten, der die Geschichten erzählt, und die Zeit, alles passiert in einer Nacht, verbunden. Der Leser ist selbst gefordert, herauszufinden, was diese beiden Geschichten außerdem zusammenhält und wie sie in das Große und Ganze des Lebens oder des Buches eingeordnet werden können.
Vielschichtige Lektüre mit viel Raum zum Interpretieren, Nachdenken und Philosophieren.