Die junge Mary ist endlich alt genug, das Waisenhaus zu verlassen. Der Abschied von den freundlichen Nonnen des Klosters der Heiligen Barmherzigkeit fällt ihr schwer, andererseits freut sie sich auf ein unabhängiges neues Leben. Doch die Idee, irgendwo eine Anstellung als Kindermädchen, Gouvernante oder Lehrerin zu bekommen, kann Mary nicht in die Tat umsetzen. Kaum ist sie mit Sack und Pack und einem seltsamen Gemälde, das ihr ein Fremder vermacht hat, unterwegs nach Massachusetts, kommt alles ganz anders als gedacht. Unversehens gerät sie in das größte Abenteuer ihres Lebens – und das gefährlichste.
Nicht nur, dass Mary herausfindet, dass sie gar nicht Campbell, sondern Wickford mit Nachnamen heißt, sie muss auch erfahren, dass sie, wie ihre Mutter und ihre Großmutter zuvor, aus einem mächtigen Hexengeschlecht stammt. Allerdings sucht die Inquisition nach Hexen, um sie ihrer gerechten Strafe auf dem Scheiterhaufen zuzuführen. An Mary scheint der Imperator, mächtigster Mann und Herrscher des Landes, besonderes Interesse zu haben, soll sie ihm doch lebend gebracht werden.
Und so stürzt Mary mehr oder weniger unfreiwillig von einem Abenteuer ins nächste und muss sich dabei allerlei Gefahren erwehren, sei es ein Besuch in der Irrenanstalt, um mehr über ihre Herkunft herauszufinden, sei es auf hoher See, um Piraten zu entkommen, sei es in den Fängen des Imperators, der eine ganz besondere Tat von ihr fordert …

Tatsächlich stammt der Roman „Mary Wickford“ nicht aus amerikanischen Landen, wie man an dem Kontinent des Geschehens, nämlich Nordamerika, zu erkennen glaubt, sondern wurde von dem französischen Fantasyautor Fabrice Colin verfasst. Der bereits mit namhaften Preisen wie dem Grand Prix de l’Imaginaire ausgezeichnete Colin erschafft mit „Mary Wickford“ eine Welt, die sich in ihren Versatzstücken stark an realen historischen Elementen orientiert: Die Hexenverfolgung und die Inquisition werden ebenso thematisiert wie die Industrialisierung, die Besiedlung Amerikas, amerikanische Ureinwohner, Freibeuter und vieles mehr. Daneben lässt der Autor jedoch ein ganzes Potpourri an phantastischen Elementen einfließen, angefangen bei Hexenkräften und Magie über mächtige Drachen und mechanische Katzen bis hin zu Anleihen aus Lovecrafts Cthulhu-Mythos, die Phantastik-Fans natürlich besonders freuen werden.
Kreativ und mutig vermischt Colin diese Ingredienzien zu einem über 700 Seiten umfassenden, mit verspieltem und schönem Cover versehenen Hardcoverband, der Fantasyfans erfreuen wird. Zwar ist es manchmal doch zu viel des Guten, wenn so viele verschiedene Elemente aufeinandertreffen, statt nur eine Handvoll davon zu nehmen und diese dann ausgiebig auszuschöpfen. Andererseits gerät der Roman dadurch sehr kurzweilig und spannend, was nicht zuletzt an der angenehm leichten Schreibweise liegt, die lediglich an der einen oder anderen Emotion der Protagonistin spart. Denn an dem Innenleben der Ich-Erzählerin hat der Leser nur wenig Anteil; er erlebt alles aus ihrer Sicht mit, sie bleibt jedoch über weite Strecken eine Fremde, deren Beweggründe und Motivationen meist im Dunkeln bleiben.
Der hübsch verzierte Einband sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Roman nicht unbedingt für die jüngsten Leser geeignet ist. Zwar werden Mord und Totschlag nicht umfangreich und plastisch geschildert, doch müssen viele Figuren um Mary sterben, und auch die Grausamkeit des Imperators und seiner Gefolgsleute wird deutlich gemacht.

„Mary Wickford“ kann vor allem in Sachen Fantasie und Kurzweil punkten und versteht es, seinen Leser über die gesamte Distanz der über 700 Seiten zu unterhalten. Dass man die Ich-Erzählerin Mary nie wirklich kennenlernt und manche Aspekte eher oberflächlich abgehandelt werden, ist schade, tut dem Lesespaß im Großen und Ganzen aber keinen Abbruch.