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Niemand hat wohl jemals ernsthaft geglaubt, der Mensch wäre perfekt. Und wenn doch, so würde er eines besseren belehrt, sobald er den Fernseher einschaltet: dummdreiste Talkshowbesucher, phrasendreschende Politiker, Kriege, Armut … Wer käme bei diesem reichhaltigen Angebot an Tragödien, Absurditäten, Dummheiten und Banalitäten auf die Idee, der Mensch wäre perfekt?
Dass genau dies nicht der Fall ist, dass der Mensch also ein Wesen voller körperlicher und vor allem auch geistiger Makel ist, davon versucht der amerikanische Psychologe Gary Marcus die Leser seines neuesten Buches zu überzeugen. Der recht provokante Titel "Murks. Der planlose Bau des menschlichen Gehirns" verspricht aber mehr Lesespaß, als das Buch tatsächlich zu halten vermag. Allerdings ist der Autor für die schlechte und irreführende deutsche Übersetzung seines Titels nicht verantwortlich, denn das englische Wort "Kluge" bedeutet bei weitem nicht Murks, sondern eher so etwas wie Notlösung. Trotzdem: Lesespaß sieht anders aus.
In acht Kapiteln und für die fünf Bereiche Gedächtnis, Glauben, Entscheiden, Sprache und Lust will der Autor dem Leser aufzeigen, dass die Evolution zwar in Hülle und Fülle hervorragende, gar perfekte, Ergebnisse geliefert hat, dass aber auch unvollkommene Lösungen existieren. Die Mutter aller unvollkommenen Lösungen ist nach Ansicht von Gary Marcus das Gedächtnis: Einerseits faszinierend, andererseits doch immer wieder enttäuschend. Marcus zählt die Schwächen des menschlichen Gedächtnisses auf – für den Leser wenig überraschend, hat doch jeder schon Erfahrungen mit der Unzuverlässigkeit seines Gedächtnisses gemacht und sich zu Hause geärgert, den Zucker im Supermarkt vergessen zu haben. Marcus schreibt über das Speicherprinzip von Computern, das er "Postleitzahlengedächtnis" nennt, beschreibt die Kontextbindung des Gedächtnisses und kommt zu dem Schluss, dass sich das kontextuelle Gedächtnis als Notbehelf entwickelt haben mag - in Ermangelung einer besseren Lösung, nämlich der Postleitzahlenzuordnung gespeicherter Informationen. Er räumt allerdings ein, dass unser Gedächtnis Prioritäten setzen kann, was ein Computer nicht kann. Trotzdem folgen einige Studien, die zeigen, wie sehr man unser Gedächtnis in die Irre leiten kann, wie empfänglich es für Störungen ist und wie wenig bewusst wir uns dieser Störungen zum Teil sind. All diese Informationen, die man in jedem guten Buch über das menschliche Gedächtnis finden kann, werden auf 26 Seiten ausgedehnt – immer mit dem Ziel vor Augen, die Unvollkommenheit des Geistes dem Leser bewusst zu machen.
Die Kapitel zu Glauben, Entscheiden, Sprache und Lust sind ähnlich aufgebaut: Wir erfahren, dass unsere Urteilskraft ebenso anfällig ist wie unser Gedächtnis und wir uns kaum bewusst sind, welche Informationen uns wie bei der Meinungsbildung beeinflussen. Wir sind außerdem willensschwach und wenn wir einen guten Tag haben, können wir zwar rationale Entscheidungen treffen, aber meist haben wir keine guten Tage - zumindest was das rationale Entscheiden angeht. Unsere Sprache ist durchsetzt von Unregelmäßigkeiten und weit entfernt von Perfektion und der kurzfristige Lustgewinn gewinnt meist die Auseinandersetzung mit den langfristigen Konsequenzen.
Marcus folgt dabei Kapitel für Kapitel dem gleichen Prinzip: Allgemein bekanntes Wissen, zumindest was psychologisch vorgebildete Leser anbetrifft, wird auf relativ großem Raum ausgewalzt. Für psychologisch interessierte, aber eben nicht vorgebildete Leser ist dieses Buch darum auch kein schlechter Einstieg in einige psychologische Phänomene. Allerdings wird diese Auswalzung kombiniert mit der Überzeugung dabei etwas ganz Neuem, einer beinah revolutionären Idee, auf der Spur zu sein. Diese Überzeugung wird weniger durch Argumente und einen darauf aufbauenden roten Faden vermittelt, als vielmehr durch das leidenschaftslose Zusammentragen von Studienergebnissen, die dem Leser als Argumente für Marcus' These verkauft werden, dass sich das Gehirn während der Evolution nicht zu einem perfekten Organ entwickelt hat. Das nervt gewaltig. Gebetsmühlenartig wiederholt er, was die meisten Leser (und Forscher) wohl kaum bestreiten würden: Das unser Geist nicht für alle Situationen perfekt gerüstet ist.
Andererseits muss man erwähnen, dass der Ausgangspunkt des Autors die Evolutionspsychologie ist, in der oft und gerne versucht wird, (vermeintlichen) Fehlanpassungen eine positive Funktion im Sinne der Evolution zuzuschreiben. Von diesem Ausgangspunkt kommend reicht es allerdings nicht, Schwächen des menschlichen Geistes aufzuzählen und zu argumentieren, dass "ordentlich programmierte Computer […] diese Art von Flüchtigkeitsfehlern nicht" begehen würden.
Die Thematik ist ja durchaus interessant, aber als psychologisch interessierter und vorgebildeter Leser erwartet man von diesem Buch anderes: mehr systematische Argumentationen entlang eines klaren, roten Fadens; mehr Rückgriffe auf die Evolutionspsychologie in den einzelnen Kapiteln; vor allem mehr Stringenz was die eigentliche These angeht. Und man erwartet, dass psychologisches Grundlagenwissen, welches lediglich Phänomene beschreibt, einem nicht als Argumentation verkauft wird. Da fühlt man sich als Leser verschaukelt. Letztlich ist man nämlich mit nur wenigen psychologischen Kenntnissen nach der Lektüre von Marcus' Buch genauso schlau wie zuvor, bloß dass man zusätzlich genervt davon ist, wie der Autor sein Wissen an den Leser bringt.