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Ganz in der Nähe des Palais Royal leben der zwölfjährige Enzo Popov und seine Mutter Liouba in einer Luxuswohnung. Enzo besucht ein renommiertes Collège im selben Nobelstadtteil.
Auf den ersten Blick klingt das nach einem sorglosen Leben. Doch genau das Gegenteil ist der Fall, denn die beiden teilen sich lediglich das Dienstbotenzimmer: Liouba wird dafür bezahlt, dass sie die Wohnung sauber und Lebensmittel im Kühlschrank bereithält für den Fall, dass die Besitzer, ein Kunstsammlerehepaar, wieder einmal überraschend für ein paar Tage auftauchen, Chaos und Schmutz in der Wohnung verbreiten und ebenso unvermittelt wieder verschwinden.
Enzo, groß und übergewichtig und allein dadurch schon zum Außenseitertum prädestiniert, führt eine trostlose Existenz. Die fremde, abweisende Wohnung, in die Liouba samstags immer mal einen flüchtigen Liebhaber mitbringt - sie ist ja erst neunundzwanzig, also noch keine dreißig, erklärt sie ihrem Sohn stets -, kann ihm kein Zuhause sein, und in der Schule wird er auf sehr aggressive Weise gemobbt. Hinzu kommt, dass Liouba sich konsequent weigert, Fragen über seinen Vater zu beantworten.
Als sich die ganze Klasse zusammenrottet und Enzo schwer misshandelt, begreifen Sohn und Mutter, dass es so nicht weitergeht.
Eigentlich möchte Liouba eine gute Mutter sein, obwohl sie sich nicht recht zur Mutterschaft berufen fühlt. Es erfüllt sie mit Genugtuung, dass ihr Enzo das Collège besuchen kann, auf dem die Wohlhabenden der Wohngegend ihre Söhne und Töchter untergebracht haben. Von Enzos ständigem Martyrium ahnt sie nichts, weiß nichts von seiner bohrenden Angst vor jedem Montag, wenn sich die Klassenkameraden mit frischer Tatkraft auf ihn stürzen, den Sohn der Putzfrau, der russischen Schlampe, um ihn zu quälen.
Mutter und unehelicher Sohn fühlen sich fremd in der zwar mit teurem, exotischem Tand, aber lieb- und geschmacklos eingerichteten Wohnung. Nicht einmal das Dienstbotenzimmer gehört ihnen wirklich: Sind die Besitzer zu Hause, so dringen sie ohne Klopfen ein. Beide haben ihre kleinen Fluchten – Liouba ihre Liebhaber für eine Nacht, samstags vom Tanzen mitgebracht, und Enzo außer den vielen Büchern in der Wohnung eine Soldatenfigur, die ihm in Träumen, bald auch in Tagträumen begegnet und Schreckliches, Wichtiges lehrt. Véronique Olmi arbeitet diese Szenen sehr gründlich aus und fordert damit zu intensivem Lesen zwischen den Zeilen auf, denn natürlich sind solche Visionen vom Ersten Weltkrieg mehr als nur Versuche von Enzo, Gelesenes zu verarbeiten.
Es ist eine groteske und ausweglose Situation, die sich dem Leser über die Seiten hinweg auftut. Ihn zerreißt Enzos stoische Duldung der Quälereien fast, auch Liouba mit ihren hilflosen und oft auch kontraproduktiven Versuchen, eine gute Mutter abzugeben, erregt Mitleid und zudem wohl ein wenig Respekt und Zuneigung. Als die Situation um Enzo eskaliert, er fast totgefoltert wird und, nachdem seine Mutter verzweifelt an seinem Bett gewacht hat, bis es ihm besser ging, die Wohnungseigentümer wieder einmal auftauchen, rücksichtslos die Würde der beiden mit Füßen treten und der Mutter die unübersehbaren Misshandlungen an Enzo anlasten, zeigt sich, dass es immer einen Ausweg gibt. Ihn zu finden, Träume umzusetzen, erfordert nur ein wenig Mut und die Neugier auf und Offenheit für Schönes, das ganz bestimmt irgendwo in Reichweite existiert.
Véronique Olmi hat ihren Roman geschickt und fesselnd aufbereitet. Es gelingt ihr, immer wieder einen Hauch von Wärme, einen kleinen Sonnenstrahl in die Düsternis dieses sonderbaren Familienlebens zweier Ausgegrenzter einzubringen, ohne dass die Bedrohlichkeit je schwindet. Dadurch, dass Olmi sich sogar immer wieder und vor allem in der schrecklichen Szene, in der Enzo auf unmenschliche Weise misshandelt wird, in die Täter hineinversetzt und ohne Sympathie, ganz sachlich deren Beweggründe und Emotionen schildert, wirkt die ganze Situation noch unheimlicher. Parallel dazu scheinen die Eindrücke aus dem Ersten Weltkrieg durch.
Mit einem gewissen Abstand zeichnet die Autorin die Charaktere, sämtlich bemitleidens-, auf ihre Weise liebenswert und auch ein klein wenig abstoßend, benutzt eine klare, dabei sehr facettenreiche Sprache, die ebenfalls dazu beiträgt, dass die erwähnte vorsichtige Distanz zu Figuren und Geschehen fast ständig gewahrt bleibt. Sonst ließe sich das Buch vielleicht gar nicht aushalten, auch wenn wohl keinem Leser ein gewaltiges und bestürzendes, verstörendes Kopfkino erspart bleibt, zumal Olmi durchaus immer wieder starke, intensive Bilder vorgibt. Es ist diese Distanz, die es beim Lesen ermöglicht oder gar erfordert, sich selbst einzubringen und so weit auf die beiden Hauptfiguren zuzugehen, wie es sich eben ertragen lässt.
Ein außergewöhnliches Buch, keines für ruhige Mußestunden, eines, das fordert und hinterfragt und mit sprachlicher Schönheit tief in das Entsetzliche der menschlichen Natur eintaucht.
Die Möglichkeit, virtuell im Buch zu
blättern, bietet die Verlagsseite.