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Nach langer, schwerer Krankheit kommt der Schriftsteller Sidney Orr nur langsam wieder auf die Beine. Zögerlich beginnt der 35-jährige, nachmittägliche Spaziergänge durch New York zu unternehmen. Die Ausflüge werden länger und länger, und eines Tages entdeckt der Genesende ein chinesisches Schreibwarengeschäft. Obwohl er seit Monaten nichts mehr zu Papier gebracht hat, beschließt Sidney, sich in dem Laden mit neuen Stiften und Schreibheften einzudecken. Besonders gefesselt ist der Autor von einem schlichten Notizbuch mit blauem Einband und kariertem Papier. Sidney kauft das Notizbuch und macht sich später am Tag daran, die leeren Seiten mit einer neuen Geschichte zu füllen. Inspiriert von einer kurzen Episode, die er einst in einem Buch gelesen hat, beginnt er die Geschichte des Aussteigers Nick Bowen niederzuschreiben:
Bowen, die Hauptfigur in Orrs Geschichte, entgeht auf der Straße nur knapp einem schrecklichen Tod, als ein Wasserspeier von einem Haus herabstürzt und seinen Kopf nur um Zentimeter verfehlt. Aufgerüttelt von diesem Erlebnis und dem Schock, noch am Leben zu sein, beschließt Bowen spontan ein völlig neues Leben zu beginnen und alles hinter sich zu lassen. Er fährt zum Flughafen und kauft ein Ticket nach Kansas City. Ohne sich von seiner Frau zu verabschieden, ohne Geld und Kreditkarten will Bowen sich seinem neuen Leben und dessen schicksalhaften Wendungen und Zufällen stellen. Nick Bowen ist ein angesehener Lektor, und in seiner Aktentasche befindet sich ein Manuskript mit dem Titel "Nacht des Orakels". Nick ist einerseits tief beeindruckt von der Geschichte, andererseits hat er sich unsterblich in die Enkelin der Verfasserin, die ihm das Manuskript vorgelegt hat, verliebt
Sidney Orr schreibt all dies mit großer Leichtigkeit in das neue blaue Notizbuch - die Worte scheinen ihm nur so zuzufliegen. Er ist vollkommen gefesselt von der Geschichte, schreibt stundenlang, ohne auch nur einmal aufzublicken. Vollkommen im Bann des blauen Buches bemerkt er zunächst nicht, dass die Dinge eine verstörende Eigendynamik entwickeln. Seltsame Dinge geschehen, Sidneys Frau Grace scheint ein Geheimnis zu verbergen, aber Orr, im Strudel der von ihm geschaffenen Geschichten, sieht die Zeichen nicht
Durch eine Verkettung von unglücklichen Zufällen kommt es schließlich zur Katastrophe.
Bei der hier rezensierten Fassung handelt es sich um ein Hörbuch aus dem Audio Verlag. Es umfasst fünf CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 362 Minuten. Die fünf CDs sind in einem schicken Pappschuber untergebracht, jede in einer eigenen Papierhülle, dazu gibt es noch ein Booklet. Die Lesung ist ungekürzt, jedoch fehlen die zahlreichen Fußnoten, die im Roman nicht bloß kurze Notizen sind, sondern ganze Seiten füllen - hier fehlt also streng genommen doch eine ganze Menge. Die Handlung bleibt durch diese Kürzung dennoch heil und vollständig, es fehlen allenfalls Hintergrundinformationen und Seitenstränge der Erzählung. Gelesen wird der Roman von Jan Josef Liefers. Der deutsche Schauspieler und Regisseur, bekannt aus Filmen wie "Sieben Monde" oder "Knockinon Heavens Door" liest schlicht und ergreifend gut, ohne Schnörkel und Eskapaden. Dies tut der Lesung ausgesprochen gut, weil man sich als Zuhörer ganz auf die Handlung konzentrieren kann. Ein exaltierter Vorleser hätte hier eindeutig zu stark abgelenkt, Liefers angenehmer Stimme hingegen lauscht man gerne.
Paul Auster hat mit "Nacht des Orakels" einen Roman vorgelegt, dessen Protagonist ein Buch schreibt, in dem ein Manuskript eine wichtige Rolle für einen Lektor spielt. Man hält mit Austers Roman beziehungsweise dem Hörbuch also ein Buch in der Hand, das von einem Buch handelt, das von einem Buch handelt. Dies muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen - Anhänger von Paul Auster wird die Verschlungenheit des Geschehens nicht irritieren, man erwartet schließlich nichts anderes vom "Zeremonienmeister des Zufalls", wie der US-Amerikaner von Kritikern genannt wurde. Die Geschichte spielt auf mehreren miteinander verknüpften erzählerischen Ebenen und fordert daher ein hohes Maß an Konzentration vom Leser. Dennoch gerät der Autor kein einziges Mal ins Stocken. Auster beschreibt die Geschichte von Sidney Orr ebenso ausführlich und lebendig wie die der Romanfigur Nick Bowen, außerdem gewährt er Einblicke in die Handlung von "Nacht des Orakels".
Paul Auster, der sich mit Titeln wie "Im Land der letzten Dinge", "Die New York-Trilogie", "Timbuktu" oder "Das Buch der Illusionen" einen internationalen Ruf als Meister der genialen, aber ebenso verstörenden und teils surrealistischen Geschichten erworben hat, ist zweifellos ein meisterhafter Erzähler. Was genau an "Nacht des Orakels" so sehr zu fesseln vermag, kann man kaum in Worte fassen. Die Handlung ist an und für sich eher wenig aufregend und keinesfalls spektakulär. Dennoch folgt man als Leser Austers Geschichte brav vom ersten bis zum letzten Wort, hängt voller Neugier an seinen Lippen und gerät beim Zuhören in einen starken Sog - weil die hier erzählten Begebenheiten sehr interessant sind, voller Wendungen und Zufälle und erfüllt von einem schwachen, aber beharrlichen Gefühl der Irritation und der Verwunderung. Nicht alle losen Enden, die Auster beginnt, führt er auch konsequent zu Ende, doch dies macht nur einen weiteren Reiz des Buches aus und regt zum Nachdenken an.
Sprachlich ist Paul Auster unbestritten ein ganz ausgezeichneter Autor mit einem angenehm sachlichen Stil, der trotz der relativen Schwere des Stoffs nie langweilig oder sperrig wird. Vorsichtig würde ich sagen, dass Auster eher ein Autor für Vielleser ist, mit dem nicht jeder etwas anfangen kann, einfach weil seine Geschichten nicht einfach zu verstehen und meistens voller rätselhafter Andeutungen sind. Auster sprengt einfach jeden Rahmen, lässt sich keinem Genre zuordnen. Die rätselhaften Ereignisse in seinen Romanen - wie auch in "Nacht des Orakels" - sind stets mehr, als sie zu sein scheinen: Analyse der eigenen Existenz und Suche nach der menschlichen Identität.
Fazit: "Nacht des Orakels" ist eine Geschichte, in der Paul Auster wie so oft einzelne Geschichten miteinander verspinnt. Sie vereint Mystik und Spannung, Selbstfindungs- und Liebesgeschichte. Für einen Auster-Roman ist dieses Werk ungewohnt kurz, so dass die gesamte Geschichte in knapp sechs Stunden erzählt ist. Sicherlich nicht Paul Austers bestes Werk, jedoch auf jeden Fall ein fesselndes Hörbuch, souverän gelesen von Jan Josef Liefers.