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Als Franz Biberkopf, der Hauptprotagonist aus Alfred Döblins Roman
"Berlin Alexanderplatz", das Gefängnis verlässt, ist nichts mehr wie es einmal war. Er wird hineingespült in ein Leben, das er so nicht mehr kennt: Trams, Warenhäuser und Straßenkreuzungen prägen inzwischen das Stadtbild - die Moderne hat Einzug gehalten. Obwohl Fiktion, zeigt der genannte Roman auf prägnante Weise, wie sich innerhalb kürzester Zeit die Erfahrungswelt der Menschen verändert hat.
Offenbar wird diese Veränderung insbesondere in Form von verschiedenen Orten, welche nunmehr ins Leben der Menschen treten. Orte wie der Bahnhof, das Auto oder das Flugzeug, die den Aktionsradius der Menschen erweitern; Orte wie der Kleingarten oder das Appartement, welche befreiend auf die Menschen wirken, oder das Tanzlokal sowie das Stadion, mit denen die Menschen vom Alltag Abstand nehmen können. Moderne Orte haben aber auch etwas mit Rationalisierung zutun (siehe das Hochhaus oder das Stahlwerk) beziehungsweise mit Vernetzung (so die Zeitungsredaktion oder das Arbeitsamt). Nicht zuletzt gehören zum 19. und 20. Jahrhundert auch Orte der Vereinnahmung (zum Beispiel das Kino oder das Warenhaus) sowie leider Gottes die Orte des Zerstörens wie die Front, der Bunker oder das Konzentrationslager. Für den vorliegenden Band kommen so 32 unterschiedliche Orte zusammen, welche stellvertretend für die Erfahrungsräume der Moderne stehen.
Am heutigen Alex sind Aschinger und Wertheim verschwunden, doch die Szenerie ist vertraut geblieben: Vergnügungslokale, Grandhotels und Kinos bieten immer noch ihre Dienste an, Nahnhöfe, U-Bahn-Stationen und Ampelkreuzungen sind nach wie vor Knotenpunkte der modernen Bewegungsgefährte.
Im Gegensatz zu den häufig beschriebenen "Erinnerungsorten" sind die in diesem Band aufgenommenen Orte keine
"Symbole, an denen sich das Gedächtnis einer nationalen Kultur manifestiert." Im Zentrum stehen vielmehr Orte, die universell für die Moderne stehen und spürbaren Einfluss auf das Leben der Menschen hatten. Auch wenn jeder Beitrag mit einem konkreten Ort beginnt, so stehen diese prototypisch für darin präsentierte Erfahrungswelt an sich. Aufgrund dessen folgt auch auf diese konkrete Beschreibung von Orten wie der KPD-Parteizentrale im Karl-Liebknecht-Haus oder dem Woga-Komplex am Kurfürstendamm ein kurzer Abriss zur geschichtlichen Entwicklung des besprochenen Erfahrungsortes, um daraus die Merkmale, welche diesen als modern auszeichnen, abzuleiten. Abgeschlossen werden die Beiträge oftmals mit einem kurzen Brückenschlag ins Hier und Jetzt, also mit aktuellen Entwicklungstendenzen.
Manche der im Band beschriebenen Orte wie der Bahnhof, das Kino oder der Strand sind nach wie vor Orte, die unser Leben prägen, andere hingegen sind heute kaum noch vorstellbar. Denn wer denkt in Zeiten von Handys noch an die Anfänge zurück, in denen Telefonzentralen der Nabel der Kommunikation waren? In denen Menschen dafür verantwortlich waren, ob Kommunikation ge- oder misslang. Andere Orte wiederum genießen heute wie damals einen zweifelhaften Ruf, so zum Beispiel das "Stripteaselokal", oder waren wie das "Appartement" nicht ganz vorurteilsfrei. Wie dem auch sei, kommen in den einzelnen Beiträgen immer wieder interessante Entwicklungen zur Sprache, die nicht nur die Gestalt des Ortes selbst betreffen, sondern auch die in ihnen stattfindende Lebenswelt - so zum Beispiel die Verdrängung des Filmerklärers durch den zunehmend narrativen, also erzählenden Film. Auch schaffen die Beiträge des Bandes immer wieder Verbindungen untereinander, wenn beispielsweise der selbstbezogene Voyeurismus im Kraftraum nicht nur den Striptease-Lokalen, sondern auch dem Warenhaus als inhärentes Merkmal zugeordnet wird.
In der Regel beschränken sich die einzelnen, gut proportionierten Beiträge auf acht bis zwölf Seiten und liefern so eine dicht gedrängte Beschreibung des Erfahrungsortes samt fachgerechter Einordnung. Trotz dieser Informationsfülle und der sprachlich differenzierten Ausdrucksweise sind diese gut zu lesen, was mitunter daran liegt, dass auf Fußnoten verzichtet wird. Lediglich am Ende eines jeden Beitrags lassen sich Literaturhinweise finden.
FAZIT: Obwohl die Erstauflage des Buches bereits 2005 erschienen ist, hat dieses nichts an seiner Faszination eingebüßt, sich an die Anfänge der Moderne zu bewegen und den Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts nachzuspüren. Eine kurzweilige Sachbuchlektüre, welche die ganze Vielschichtigkeit unserer modernen Erfahrungswelt in Form von 32 lesenswerten Aufsätzen aufschlüsselt und so zentrale Entwicklungen der Moderne aufzeigt.
Weitere Informationen zum Buch finden sich auf der Webseite des Verlags .