"Dradin, verliebt unterm Fenster seiner Liebsten, wie er zu ihr hochstarrt, indes die Menge rings um ihn brandet und braust, ihn anrempelt, ihm blaue Flecken verpaßt, allesamt unabsichtlich, die derbgekleideten, leuchtend rot geschminkten Tausende
"
Mit diesem Satz beginnt der Geniestreich "Stadt der Heiligen und Verrückten" von Jeff Vandermeer; und schon dieser erste Satz zeigt, was den Leser erwartet: ein stilistischer Leckerbissen, wie er im Fantasy-Genre selten zu finden ist. Erzählt wird die Geschichte des Missionars Dradin, der in die bunte Stadt Ambra kommt und sich in die besagte Frau am Fenster verliebt; oder nein: die Geschichte eines Schriftstellers, der ein Buch namens "Die Stadt der Heiligen und Verrückten" verfaßt und sich deswegen einem peinlichen Verhör unterziehen muß; oder vielmehr: die Geschichte der Familie Hoegbotton, eine Teppichweberdynastie, deren letzter Spross Zeugnis über die grausame Herrschaft des Kalifen von Morrow ablegt
oder, was wesentlich präziser wäre: erzählt wird die Geschichte der Stadt Ambra, eine Stadt, in der nicht nur Verrückte und Heilige herumstravanzen, sondern auch Pilzwesen, Jünger des Ordens der Ejakulation - eine vergnügliche, gesellschaftlich aber inakzeptable Gemeinschaft -, ein Maler, der zu einer Enthauptung eingeladen wird, die fanatischen Anhänger eines jüngst verstorbenen Komponisten, eine Wandertruppe aus Psychiatern sowie diverse Königskalmare, die für Ambras Historie und Kultur eine ganz besondere Rolle spielen. Dies alles schildert Vandermeer seinen Lesern in einer bunten Mixtur verschiedener Textarten: kleine Erzählungen, Verhörprotokolle, Geschichtsbücher, Notizzettel und wissenschaftliche Untersuchungen - mit ausgeprägtem Fußnotenapparat. Jeder dieser Texte fügt der Stadt Ambra eine neue Facette hinzu und ist zudem in sich ein kleines Kunstwerk, etwa die äußerst humorvolle Bibliographie zum Thema Königskalmare, in der Werke wie "Die Geschichte der tentikulären Geschöpfe" von Volman Gort verzeichnet sind. Die aufwendigen Illustrationen, Fotographien und Schmuckbalken verleihen dem Buch eine ganz eigene Stimmung; und Vandermeers farbenfroher Stil, der sich der jeweiligen Textform anpaßt, läßt einen mehrmals voller Staunen zurück - wobei auch die herausragende Übersetzung von Erik Simon erwähnt werden sollte.
Überhaupt ist die deutsche Ausgabe ein kleines Meisterwerk. Hier wurde nicht nur ein Text übertragen, sondern Seite für Seite das Original nachgebildet, bishin zu Vandermeers handschriftlichen Notizen und dem kongenialen Buchumschlag. Hier hat der verantwortliche Setzer bei Klett Cotta, Ronald Hoppe, Liebe zum Detail bewiesen - und es zahlt sich aus: "Die Stadt der Heiligen und Verrückten" ist mehr als ein Roman, sondern ein Kunstwerk, eine literarische Collage. Als eine solche sollte das Buch auch gelesen werden; der stringenten Lesart von vorn nach hinten verweigert es sich. Das Querlesen, Zurückblättern, Vorausspringen sei deshalb dringend empfohlen. Wenn man dann noch die diversen literarischen Anspielungen beachtet - unter anderem gibt es in der Stadt Ambra eine "Bibliothek Borges" und ein attraktives Geschwisterpaar namens Juliette und Justine -, muß man wohl zugleich eine Warnung aussprechen: Hände weg, wer generell mit experimenteller Literatur nichts anzufangen weiß. Alle anderen erwartet ein Werk, wie es in der Phantastik selten zu finden ist: Fantasy für Fortgeschrittene.