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Vom 14.2. bis zum 29.5.2016 präsentiert das Museum für bildende Künste in Leipzig die Stadtporträts des Fotografen Stefan Koppelkamm, der zur Wendezeit ostdeutsche Städte sowie Berlin besuchte und einzelne Bauwerke und Ensembles fotografierte - und dies rund zehn Jahre später wiederholte: dieselben Häuser, wenn möglich aus exakt derselben Perspektive. "Bilder des Wandels" nennt sich dieser Teil der Ausstellung, dem ein Vorwort von Hans-Werner Schmidt vorausgeht. Begleitet wird er von drei Essays: "Hinter den Fassaden" von Annett Gröschner, "Die Austreibung der Geschichte" von Arnold Bartetzky und "Zeitbilder. Dokumentarische Architektur und die Geschichte der Vorher-Nachher-Fotografie" von Ines Weizman.
Mit "Kommentare zum urbanen Leben" ist Teil zwei betitelt, der zum einen Nahaufnahmen von Bürohausfenstern einschließlich des Lebens (und Stilllebens) dahinter zeigt, zum anderen großformatige Werbeplakate mit Porträts samt ihrer Wirkung auf den städtischen Kontext. Zwei Essays ergänzen die Bilder: "Zeitfenster//Puppenhaus - 68 Arten ein Bild zu beschreiben" von Annett Gröschner sowie "Meinen die mich? – Gesichter auf der Straße, extragroß" von Valentin Groebner. Im letzten Abschnitt, "Die Lücke zwischen Bild und Ton", zeigt der Fotograf Restaurants, Bars und andere gastronomische Einrichtungen nach Geschäftsschluss, also menschenleer, teils mit auf Tischen hochgestapelten, auf das Reinigungspersonal wartenden Stühlen. Bernadette Dufrêne steuert den Essay "Fotografie im Schnittpunkt der Gegenwartsformen" bei. Den Abschluss bilden Biografien und Verzeichnis der ausgestellten Werke.
Für Ostdeutsche mag der Wiedererkennungswert als Reiz hinzukommen, doch die im Frühjahr 2016 stattfindende Ausstellung in Leipzig und der hier vorgestellte Katalog dazu bieten sehr viel mehr als die so genannte "Ostalgie" und sprechen definitiv ein weit gefasstes Publikum an, begegnen Koppelkamms Themen doch jedem Stadtbewohner oder regelmäßigem -besucher auf Schritt und Tritt.
Von besonderem Interesse sind die Vorher-Nachher-Fotografien mit einer Dekade Zeitdifferenz zwischen jeweils beiden Bildern, und sie nehmen auch den größten Teil des Buchs ein. Die Veränderungen sind oft frappierend: verfallende schöne Bauten, von Schadstoffen und mangelnder Pflege gezeichnet, erstehen schmuck und elegant (bisweilen jedoch auch im schnöden Einheits"look" oder als Zeugnisse schlechten Geschmacks) wieder auf. Oder aber - und diese Bilder vermögen durchaus zu verstören - sie wirken nach zehn Jahren noch gammeliger: noch mehr Putz ist verschwunden, Fensterscheiben fehlen, Schriften werden vollends unleserlich und Flora gewinnt eine Schlacht nach der anderen. Was sie im Übrigen in einem Fall auch darf und soll, nämlich wenn im Potsdamer Park Babelsberg ein Wachturm gefällt wurde und statt Mauer und Turmtrümmern ein freier, von Natur gerahmter Blick auf die Glienicker Brücke entstand.
So weit durfte Schwarz-Weiß dominieren; im zweiten Teil finden sich gelegentlich auch Farbaufnahmen. Der Betrachter wird ein Stück weit zum Voyeur, wenn er, Koppelkamms Sichtweise aufgreifend, durch Baugerüste und Bauplanen oder aber durch Fenster von Bürogebäuden schaut und manchmal schlichte Verkehrsszenen, dann jedoch wiederum auch Intimeres wie Gespräche zwischen Büroangestellten oder ihr konzentriertes Arbeiten beobachtet. In diesem Kapitel finden sich auch die großen Plakate mit Menschen, die den Blick des Betrachters gierig einfangen und zugleich von ihrer Umgebung beeinflusst werden; Koppelkamm hat einen wunderbaren Blick für diese Wechselwirkungen. Eine völlig andere und sehr intensive Atmosphäre vermitteln die Fotos von Restaurants und Bars nach dem Feierabend, wenn bald das Reinigungspersonal eintrifft und den letzten Rest von Romantik und Ambiente in Detergenzienaromen ersticken wird. Andere Restaurants warten mit eingedeckten Tischen und steril wirkend auf die nächsten Gäste. Orte der Geselligkeit ohne Menschen. Entvölkert. Ein bisschen unheimlich.
Es lohnt sich, die Essays zu lesen: um Koppelkamm noch ein wenig besser zu verstehen und um einen Blick über den Tellerrand zu wagen. Koppelkamms Bilder lassen sich so im Kontext und zugleich als singuläre Erscheinungen begreifen, denn letzten Endes steht jeder Künstler mit seinen Werken für sich und allein.
Ein starker Bild- und Sachband, der die Ausstellung perfekt vor- und nachbereiten kann, aber auch unabhängig von ihr einen umfassenden und spannenden Einblick in Stefan Koppelkamms Werk bietet.
Weitere Informationen sowie ein Blick ins Buch finden sich auf der Webseite des Verlags.