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Anatoli Suchanow gehört zu jenen, die es in der Sowjetunion zu etwas gebracht haben: Er ist Herausgeber und Chefkritiker der bedeutendsten Kunstzeitschrift des Staates, hat eine großzügige Wohnung, eine aparte Datscha und einen Chauffeur und genießt alle Privilegien. Zudem ist er mit Nina verheiratet, der schönen und rätselhaften Tochter eines der bekanntesten sowjetischen Maler, und seine mehr oder weniger erwachsenen Kinder befinden sich ebenfalls auf der Erfolgsspur.
Nun aber, Mitte der 80er-Jahre, will Suchanow nicht wahrhaben, dass seine hübsch arrangierte Welt bröckelt. Ein rauer und verstörender Wind bläst ihn an, erstmalig auf einer Ausstellung seines Schwiegervaters, der immer wider besseres Wissen und bessere Begabung systemkonform und drittklassig gemalt hat, so wie Suchanow systemkonform über Kunst geschrieben hat. An diesem Tag begegnet er zufällig seinem früheren besten Freund, mit dem er, hoch begabt, einfallsreich und kühn, einst zusammen künstlerisch experimentiert hat, bis das Regime ihrer ansichtig wurde und ihnen mit dem Bann drohte, sollten sie ihre Arbeit in dieser Form fortsetzen.
Suchanow verkaufte seine Seele, sein Freund nicht.
Nun aber begegnet Suchanow auf Schritt und Tritt die bislang so erfolgreich verdrängte Vergangenheit. Tochter und Sohn entfremden sich ihm, seine Frau zieht sich ebenfalls zurück, dafür erscheinen Menschen aus seiner Kindheit und Jugend, mit denen er vor langer Zeit abgeschlossen zu haben meinte. Die Geister der Vergangenheit, darunter Opfer der willkürlichen stalinschen "Säuberungen" aus der Nachbarschaft des kleinen Anatoli, aber auch scheinbare Statisten seines Werdegangs, dringen immer intensiver auf ihn ein, bis sie in surrealer Form mit ihm und mit der Gegenwart verschmelzen.
Olga Grushin, 1971 in Moskau geboren, hat in wahrlich faszinierender Weise einen der scheinbaren Gewinner des Sowjetsystems porträtiert, dessen Welt sich im Zuge von Glasnost und Perestroika auflöst. Primär geht es allerdings nicht um Schuldzuweisungen, hat Suchanow doch nichts anderes getan, als sein eigenes, zweifellos vorhandenes Genie als Maler zu verraten und dank dem Einfluss seines Schwiegervaters, der sich im Sozialistischen Realismus etabliert hat, eine Karriere als Kunstkritiker anzustreben, die ihm geradezu aufgedrängt wird. Es ist das Ich, das ihm abhanden gekommen ist, das er gegen eine idyllische, komfortable Scheinwelt eingetauscht hat. Die Veränderungen in der Sowjetunion lassen jedoch Suchanows vertraute Welt einstürzen, und er sieht sich mit dem verstörten Jungen konfrontiert, der er einmal war - ein armer Junge, dessen Vater aufgrund einer psychischen Erkrankung Selbstmord beging, der von anderen Jungen in der viel zu engen Wohneinheit gequält wurde, und der sehr früh mit ansehen musste, wie scheinbar unauffällige Nachbarn nachts von Männern in schweren Stiefeln abgeholt wurden.
Während Vergangenheit, surrealistisch gefärbte Träume und Wirklichkeit ineinander übergehen, begreift Suchanow, dass es niemals zu spät ist, das brachliegende, verleugnete Ich zu reaktivieren, und dass nur das wahre Ich letztlich die Zeiten überdauert.
In Olga Grushins Roman gehen Zeitebenen auf subtile Weise ineinander über. Immer wird aus Suchanows Perspektive erzählt. Sobald Suchanow in seinen Träumen oder aufgrund realer Erlebnisse von der Vergangenheit gefangen genommen wird, wechselt die Erzählperspektive von der dritten Person in die erste und lässt den Leser unmittelbar an Suchanows Erleben und Erinnern teilhaben, in dem die realen Elemente zunehmend schwinden, bis Suchanow bereit ist, die Vergangenheit anzunehmen.
Das Erstlingswerk der russisch-amerikanischen Autorin schildert bestürzend und sehr lebendig das Trauma der "Angepassten", der Apparatschiks aus dem sowjetischen System, die oftmals Ideale verraten haben um der Karriere, manchmal auch um des nackten Überlebens willen, und zeigt auf, dass es nie zu spät ist, zum Ich zurückzufinden.