Der stille und sanfte Warre liebt nichts mehr als alleine durch die Landschaft zu wandern und Vögel zu beobachten. Eines Tages aber findet er etwas, das er in seinem Vogelkundebuch nicht findet: Es ist ein Vogel und ein Mensch. Es hat keine Arme, dafür aber schöne Flügel. Es hat Beine und kann nicht sprechen. Er nimmt das Wesen, das so gar nicht wie ein Engel, Vogel oder Mensch aussieht, mit nach Hause. Er und seine Frau Ture beschließen es Vögelchen zu nennen und an Kindes statt groß zuziehen. Da aber die Kleine nur das "i" wirklich beherrscht, nennen sie es nur noch "Viegelchen. Ganz stolz geht Ture sogar mit ihr einkaufen, sorgt aber mit einem schönen blauen Mantel dafür, dass niemand die Flügel sieht. Vor allem die roten Schuhe aber stören Viegelchen. Als sie für einen Moment alleine ist, zieht sie die Schuhe aus und fliegt davon. Ture und Warre sind untröstlich, machen sich auf die Suche, können Viegelchen aber nirgends finden.
Viegelchen fliegt derweil immer weiter fort und landet schließlich in einer Dachwohnung. Das Mädchen, das dort wohnt, möchte Viegelchen behalten und schließt schnell das Fenster. Doch Viegelchen lässt sich nicht lange anbinden - sie will einfach nur fliegen.

Das preisgekrönte Kinderbuch "Viegelchen will fliegen" von der Niederländerin Joke van Leeuwen behandelt ein schwieriges Thema. Es variiert gekonnt das Problem, etwas, das man liebt, nicht loslassen zu können. Und gleichzeitig versucht es zu erzählen, wie Erwachsene oder Kinder mit jemandem umgehen, der anders ist als sie. Die Angst vor der Meinung der anderen, die Sorge um die Zukunft dieses Seltsamen, die Nöte, das Anderssein zu verstecken, zu tarnen, nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Preisgekrönt und von der Kritik bejubelt als "ernstes und wichtiges Kinderbuch" kann man "Viegelchen will fliegen" nun auch als Hörbuch erwerben.

Zunächst muss der Käufer mit zwei Nachteilen leben. Zum Einen fehlen die liebenswerten Zeichnungen der Autorin, die den Text auflockern und beleben. Und zum Anderen kostet die Hörbuch-Variante natürlich das Doppelte des Buches. Mithin also steht das Buch in der Wahl der Käufer und Leser deutlich vorne? Vielleicht. Allein, dem Leser entgeht der Vortrag von Suzanne von Borsody. Und deren Art, diesen oft schwierigen, nicht immer eindeutigen und gelegentlich sogar verstörenden Text vorzutragen, ist absolut einmalig. Sie lässt Viegelchen lebendig werden, erhellt die Sorgen und Nöte der Erwachsenen und Kinder, die mit Viegelchen Kontakt haben, sie lieben, "haben" wollen und die der Vogelmensch wieder verlässt. Ihr Vortrag ist so schön und liebevoll, dass er im Vergleich mit dem Buch und dessen Vorteilen herausragt und einen Kauf fast zur Bedingung macht, dieses schöne Stück Kinderliteratur wirklich zu verstehen. Es ist vor allem für kleinere Kinder ab acht Jahren viel leichter, Suzanne von Borsody zu lauschen und ihrem lebendigen Vortrag, als mühevoll nachzulesen, was Joke van Leeuwen geschrieben hat. Je älter der Rezipient aber ist, umso stärker empfiehlt sich das Buch, denn die netten Bilder sorgen für längeren und höheren intellektuellen Genuss. Vor allem Erwachsene sollten dem Buch den Vorzug geben.

"Viegelchen will fliegen" ist ein wunderschönes Hörbuch. Dank Suzanne von Borsody sollten vor allem Kinder dieser Fassung den Vorzug geben und einen Vortrag genießen, der dem warmherzigen und pädagogisch wertvollen Text die notwendige Geltung verschafft.