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Die Familie Doinel scheint eine ganz normale französische Durchschnittsfamilie: Mutter Nadine arbeitet als Erzieherin in der Vorschule, Vater Marc ist Abteilungsleiter in einem Logistikunternehmen. Die vierzehnjährige Charline, genannt Charlie, begeistert sich für Mangas; ihr kleiner Bruder Esteban ist hochbegabt und erfindet pausenlos neue Dinge. Doch hinter der Fassade hat jeder der Doinels im Alltag zu kämpfen: Nadine fühlt sich zunehmend ausgelaugt, die irrwitzige Bürokratie des Schulsystems lässt sie verzweifeln, ein schlichtes "Ich liebe dich" an ihre Kinder fällt viel zu oft Zeitmangel und Stress zum Opfer.
Marc, der mit seinen Mitarbeitern gut auskommt und der ein Herz für die Gescheiterten der Gesellschaft hat, hadert mit seinem Beruf - erst recht, als er die Nachricht erhält, dass sein Betrieb völlig umstrukturiert wird und zahlreiche Entlassungen drohen. Eine Konfrontation mit dem arroganten Sohn des neuen Chefs, der ein echter Kotzbrocken ist, scheint unausweichlich ...
Esteban ist zu klein für sein Alter, wird gemobbt und vermisst abends seinen vielbeschäftigten Papa; allzu vieles macht ihm Angst, und Freunde zu finden fällt ihm schwer. Charlie lebt in einer Traumwelt, in der sie eine völlig andere Person ist; zudem entfremdet sie sich immer mehr von ihrem Vater. Trotz aller Widrigkeiten entdeckt die Familie aber irgendwann, dass sie alle denselben Traum träumen ...
Marie-Aude Murail, Autorin so entzückender Romane wie "
Simpel" und "
Über kurz oder lang", hat mit "Vielleicht sogar wir alle" erneut das Kunststück vollbracht, eine kluge Geschichte mitten aus dem Leben zu erzählen, die das Herz wärmt und die trotz tragischer Ereignisse Hoffnung und gute Laune verbreitet.
Die Doinels könnten im Prinzip jedermann sein - Marie-Aude Murail berichtet in wechselnden Perspektiven aus ihrem Leben und schildert ihre Sorgen und Nöte. Obwohl der Roman bei Fischer Schatzinsel erschienen ist, ist "Vielleicht sogar wir alle" kein ausgesprochenes Kinder- oder Jugendbuch. Vor allem der Teil der Erzählung, der sich mit Marc beschäftigt, handelt von den Qualen eines Berufsalltags, der zunehmend von Unmenschlichkeit und Profitstreben geprägt wird. Daran zerbricht Marc, der früher auf die schiefe Bahn geraten zu drohte und der überhaupt kein Karrieremensch ist, fast.
Alle Beteiligten in "Vielleicht sogar wir alle" spüren Druck, Verzweiflung und Unzufriedenheit, sogar schon die Kleinsten in der Vorschule. Dass das Buch aber dennoch keine deprimierende Geschichte ist, verdankt es der Leichtfüßigkeit der Autorin und ihrem Gespür für wunderbare Momente. Sie fügt zusammen, was zusammen gehört, und bietet am Ende der Familie Doinel einen fabelhaften, aber trotzdem realistischen Traum von Glück und Zufriedenheit. Das Leben ist zu schade, um es mit Angst, Unfreiheit und Ungerechtigkeit zu verbringen, das wird dem Leser immer klarer, je mehr er die Familie kennenlernt. Ein Ausbruch aus alten Strukturen ist möglich, ruft Murail dem Leser zu - und der fühlt sich wirklich angesprochen von dieser alltäglichen und doch außergewöhnlichen Geschichte.
Ein wunderbarer, gefühlvoller Roman, in dem zunächst das Traurige überwiegt. Wie von Marie-Aude Murails Geschichten gewohnt, gibt es am Ende aber Trost und ein wirklich schönes Ende. Nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Erwachsene sehr empfehlenswert!