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Nach Sophies Rückkehr an die Schule ist alles anders. Eine neue Schülerin ist in die Klasse gekommen, ihre frühere beste Freundin hat sich von ihr abgewendet und verbringt ihre Zeit jetzt lieber mit den beliebtesten Mädchen der Klasse. Sophie, die schon vor ihrer Zwangspause eher eine Außenseiterin war, wird da nur geduldet. Dabei würde sie gerade jetzt ihre Freundin mehr als jemals zuvor brauchen. Ein tragisches Unglück hat ihr Leben verändert, mit ihrer Mutter versteht sie sich nicht mehr, sie wird von Schuldgefühlen zerfressen und kann mit niemandem reden - weder mit der Mutter, der Freundin noch der Therapeutin, zu der sie wöchentlich gehen muss.
Diese kann sie immerhin dazu überreden, Tagebuch zu führen, so dass auch der Leser nach und nach erfährt, was genau mit Sophie geschehen ist und warum sie so verstört ist.
Es dauert lange, bis der Leser das Geheimnis dieses Romans ganz entschlüsselt hat. Schon früh ahnt man, dass etwas Furchtbares geschehen sein muss, was genau, verbirgt Sophie aber auch in ihrem Tagebuch vor der Außenwelt. Durch dieses Tagebuch nimmt der Leser an ihrem Leben teil, erfährt, wie Sophie von Tag zu Tag mehr mit Angst, Wut und Trauer kämpfen muss. Durch ihre Einträge beleuchtet sie ihren Alltag in der Schule, in dem die Freundinnen sich von ihr abwenden und ihr eigenes Leben weiterleben, und dass die Mutter ebenso in ihrer eigenen Welt gefangen ist wie Sophie selbst. Es scheint, als könnte keiner zu ihr durchdringen. Nur die neue Mitschülerin versucht es, sie ist ein Lichtblick in Sophies Leben.
"Vor meinen Augen" beleuchtet Tag für Tag, Eintrag für Eintrag mehr, was Sophie zugestoßen ist. Wie ein Detektiv muss der Leser nach Puzzleteilen suchen und nach und nach die ganze Geschichte zusammen setzen. Die Frage, was genau passiert ist, ist es, die den Leser dazu treibt, immer weiter zu lesen. Alice Kuipers Schreibstil ist leicht zu lesen und kann auch mit einigen gelungenen Formulierungen überraschen, auch in den Gedichten, die sie ihrer Protagonistin in die Gedanken legt. Doch leider ist die Geschichte, abgesehen von der großen Frage, was passiert ist, nicht besonders spannend. Die Nebencharaktere handeln teilweise unverständlich, vor allem das Verhalten von Sophies sogenannter bester Freundin ist irritierend. Dazu kommt eine Liebesgeschichte, die komplett übertrieben und unpassend dargestellt wird. Es scheint fast, als sollte Sophie sich zwanghaft verlieben, um auch die Romantiker anzusprechen, ohne darauf zu achten, wie dieses Geschmachte in den Handlungsverlauf passt. Und als wäre das große Thema des Romans, das am Ende gelöste Geheimnis, nicht genug Dramatik, muss man natürlich Betrug, neu-verliebte Elternteile, Alkoholabhängigkeit, Bulimie, Terrorismus und Intoleranz ebenfalls eine Rolle spielen lassen - etwas viel dafür, dass das meiste davon erst im letzten Viertel des Buches zur Sprache kommt.
Sophies Geschichte selbst ist interessant, stellenweise schockierend und bewegend. Leider wurden noch so viele Inhalte dazu gemischt, dass die Kernaussage und das große, alles überwältigende Gefühl der Trauer verwässert werden. Zudem sind die ersten drei Viertel des Buches eher eine Einleitung für den Schluss, bei dem sich alles löst. Das kann interessant sein, in diesem Fall ist es das aber nicht, weil zu viele Nebensächlichkeiten und weitere Themen eingebracht werden.
Dies ist zu einem Teil der Tatsache geschuldet, dass das Buch ein Tagebuch widerspiegeln soll. Eine Geschichte in Tagebuchform, in der die psychische Belastung eines solchen Verlustes und das daraus resultierende Trauma erkannt und behandelt wären, wäre unglaubwürdig. So ist es immerhin wirklich so geschrieben, als hätte ein junges Mädchen geschildert, was sie bewegt und wie ihr manchmal mitten am Tag die Luft wegbleibt, ohne zu verstehen, was da mit ihr geschieht und warum dem so ist.
"Vor meinen Augen" ist ein melancholisches und rührendes Buch, vor allem für junge Mädchen. Diese werden sich gut mit Sophie identifizieren können, zum einen durch die Gemeinsamkeit in Alter und Alltag, zum anderen durch den Schreibstil.