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Lappland ist, wie ganz Finnland, im Sommer 1944 ein zerrissenes und vom Weltkrieg gebeuteltes Land. Noch herrschen die Deutschen, doch eine Wende zeichnet sich bereits ab.
Zu dieser Zeit begegnet die örtliche Hebamme in Petsamo dem umschwärmten SS-Offizier Johannes Angelhurst und verliebt sich im ersten Augenblick in einer Weise in ihn, die sie hörig macht. Er nennt die im Roman nicht mit einem Namen versehene Frau "Wildauge"; in der Region begegnen ihr widerwilliger Respekt und Misstrauen, da ihr Beruf ihr Macht über Leben und Tod verleiht und sie auch Kenntnisse aus der alten samischen Medizinkultur mitbringt. Johannes, dessen Aufgabe darin besteht, die mit Deutschland kooperierenden Finnen fotografisch zu porträtieren, entwickelt ein zwiespältiges Verhältnis zu ihr.
Als er in ein Gefangenenlager versetzt wird, gelingt es ihr, sich dort eine Stelle als Krankenschwester zu erschleichen. Zunächst lässt sich alles gut an. Der Lagerleiter ist ein guter Bekannter von Johannes aus dessen Kindheit und dem gemeinsamen SS-Dienst in der Ukraine. In Bezug auf die letztgenannte Phase seines Lebens hat Johannes allerdings einen Filmriss, und es zeigt sich, dass zwischen dem Lagerleiter und ihm eine eigenartige, zunehmende Spannung besteht, die offensichtlich auf damaligen Ereignissen beruht. Johannes erhält von seinem früheren Freund eine Droge gegen sein Trauma, die sich jedoch massiv auf seine Persönlichkeit auswirkt – freilich nicht in einem guten Sinne.
Und dann geraten die beiden Liebenden endgültig in die anstehenden großen politischen Verwerfungen hinein.
In letzter Zeit haben sich mehrere jüngere finnische Schriftsteller mit dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Besatzung in ihrem Land auseinandergesetzt; Katja Kettus Roman "Wildauge" hatte wohl den meisten Erfolg. Die Autorin hat ihm Aufzeichnungen ihrer Großmutter zugrunde gelegt, die in der Tat die Tochter eines SS-Mannes und einer namentlich nicht bekannten Finnin war. Diese Information verrät bereits etwas von der Dramatik des Werkes.
Tagebuchartige Aufzeichnungen und Briefe wechseln sich ab, auch arbeitet die Autorin mit eingebauten Vor- oder Rückblenden, wie immer man es sehen möchte. Größtenteils springt die Perspektive zwischen der Hebamme und Johannes Angelhurst hin und her. Ein eingestreuter Funkverkehr zwischen einem Mehrfachagenten und seinen Auftraggebern und weitere Elemente fügen sich erst später in das gewaltige Puzzle um die namenlose Figur Wildauge ein.
Leidenschaft, exzessive Gewalt, Liebe über alle Grenzen und jede Vernunft hinweg, Einsamkeit, Verzweiflung, erbärmliche Feigheit hier und ungebrochene Tapferkeit dort, aber ebenso eine ungehemmte Erotik bestimmen den Roman, in dem Katja Kettu eine eigenwillige, kreative, dunkle, nicht selten auch bewusst vulgäre Sprache entwickelt, die den Leser in alle Ebenen von Wildauges Hölle und kurzem Ausflug in den siebten Himmel mitnimmt, ihn mitfiebern, das Entsetzen, die Grausamkeit und Entmenschlichung schier hautnah mitfühlen lässt. Sprachgewaltig baut sie Stimmungen und Spannungsbögen auf, arbeitet mit sorgfältig konzipierten, authentischen Charakteren und schafft so einen Roman, der trotz der zeitlichen Dichte und des nicht allzu großen Umfangs fast zum Epos wird.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, das Nachwort der Übersetzerin aufmerksam zu lesen, das im Nachhinein manchen Aspekt der komplexen Handlung verständlicher macht, ebenso jedoch aufzeigt, welch enorme Arbeit hinter der deutschen Ausgabe steckt. Die Übersetzerin hat auch einen Anhang mit Anmerkungen zusammengestellt, die Begriffe, Personen und Ereignisse erläutern.
In den Klappen vorne und hinten befindet sich eine Karte, die dabei hilft, die einzelnen Szenen des Romans geografisch zu verorten. Das Nachwort von Kettus Mutter wiederum enthält weitere wertvolle Informationen zu den Hintergründen.
"Wildauge" gehört definitiv zu den großen Entdeckungen des Jahres 2014 auf dem Belletristik-Sektor und fand nicht zuletzt auf der Frankfurter Buchmesse viel Aufmerksamkeit. Uneingeschränkte Empfehlung – außer für allzu zart Besaitete, denn dieser Roman wirkt nach.
Eine Leseprobe kann auf der Verlagsseite heruntergeladen werden.