Welches Jahrhundert brachte bislang den größten Wandel für die Menschen? So leicht, wie wir meinen, lässt sich diese Frage gar nicht beantworten - findet der englische Historiker Ian Mortimer. Zwar wies das 20. Jahrhundert eine explosive Fülle an technischen Neuerungen auf, doch es wäre zu überlegen, ob diese für die Weiterentwicklung der Menschheit wirklich von so großer Bedeutung sind wie etwa die Französische Revolution, die Aufklärung insgesamt oder Newtons Revolution der Physik.
Mortimer nimmt sich im Anschluss an die Einleitung, in der er seine Motivation erklärt, die letzten zehn Jahrhunderte einzeln vor und analysiert sie die allgemeine Situation der damaligen Menschen sowie die Neuerungen, welche im jeweiligen Jahrhundert stattfinden. Jedes Kapitel enthält eine Zusammenfassung der zuvor zusammengestellten Aspekte und schließt ab mit der Wahl des "wichtigsten Akteurs des Wandels". Auf das 20. Jahrhundert folgen ein ausführliches Fazit und eine Schlussbetrachtung. Den Anhang bilden Dank, Anmerkungen und Register.
Fast alle Menschen vertreten die Ansicht, dass es im 20. Jahrhundert die meisten Veränderungen aller Zeiten gegeben habe. Doch wir hinterfragen diese Annahme - oder Behauptung - nicht, ist es doch evident, dass die technischen Erfindungen und Möglichkeit explodiert sind und auf der anderen Seite zwei mörderische Weltkriege zu Katastrophen nie gekannten Ausmaßes wurden. Der Autor stellt diese Rolle des 20. Jahrhunderts in der Einleitung infrage und untersucht anschließend wesentliche Aspekte des Wandels ab dem 11. Jahrhundert nach Christus. Wohlgemerkt beschränkt sich das Buch explizit auf Europa.
Jedes der je ein Centennium umfassenden Kapitel enthält vier bis sechs Unterkapitel, die einzelne für das jeweilige Jahrhundert wie auch längerfristig wichtige Entdeckungen, Entwicklungen oder Ereignisse aufgreifen. Einige davon würde jeder Leser ebenfalls ad hoc nennen, andere verblüffen auf den ersten Blick, doch auch ihre Bedeutung erschließt sich dank der anschaulichen und fundierten Begründungen rasch und nachhaltig. Nicht-Historiker würden den Beginn des Nationalismus wohl eher nicht im 14. Jahrhundert verorten und dürften auch überrascht sein über den Rückgang der individuellen Gewalt als Meilenstein im 16. Jahrhundert, um lediglich zwei Beispiele zu nennen. Andere Eckpunkte wie Reformation, Buchdruck, Aufklärung, industrielle Revolution und das Aufkommen von öffentlichen Maßnahmen im Sinne von Gesundheit und Hygiene dürften jedem vertraut sein.
Für Leser mit einer guten Allgemeinbildung ohne ausgeprägten Geschichtsschwerpunkt halten vor allem die Neuerungen im Mittelalter Überraschungen bereit, auch wenn nach kurzer Betrachtung deutlich wird, warum etwa der sich nicht zuletzt aufgrund der Ausbreitung der Westkirche etablierende Frieden im 11., die Akzeptanz und Durchsetzung der Macht der Gesetze im 12. oder der Einfluss der Bettelmönche im 13. sowie der Einsatz der ersten Fernwaffen im 14. Jahrhundert Weichen stellten. Vielfach ergänzen und veranschaulichen Grafiken die Entwicklungen, beispielsweise zum Bevölkerungswachstum oder zum Rückgang der Mordquote durch die Jahrhunderte.
Dank den Zusammenfassungen erhält der Leser für jedes Jahrhundert noch einmal eine "übergeordnete" Darstellung. Spannend ist zudem jedes Mal die Kür des wichtigsten Akteurs des Wandels aus einem kleinen Kreis von Kandidaten. Im Fazit wird ein solcher Akteur für das gesamte Jahrtausend ausgemacht, und dieser dürfte wirklich überraschen - und doch überzeugen. Und, ja, der Autor wählt hier auch das Jahrhundert, welches am meisten vom Wandel betroffen war.
Wer sich für größere historische Zusammenhänge, für die bedeutenden Brüche und allmählichen Veränderungen in Europa interessiert, findet in diesem Buch eine so spannende wie gut strukturierte und fundierte Abhandlung.
Taschenbuch | Erschienen: 12. Januar 2017 | ISBN: 9783492310079 | Originaltitel: Centuries of Changes. Which Century Saw the Most Change and Why it Matters to Us | Preis: 12,00 Euro | 432 Seiten | Sprache: Deutsch