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Unserer Gesellschaft fällt es schwer, politische Leidenschaften zu verstehen, die einem starken kollektiven Selbstbehauptungswillen entspringen. Gewöhnlich werden sie unter Etiketten wie Fanatismus, Nationalismus, Bellizismus, Extremismus, Fundamentalismus et cetera als unmoralisch, wenn nicht krankhaft abgetan.
Wenn westliche Gesellschaften stets aufs Neue von den jeweils aktuellen Erscheinungsformen solcher Leidenschaften überrascht werden, so liegt dies, dem Philosophen Peter Sloterdijk zufolge, an anthropologischen und psychologischen Fehlannahmen:
Christentum und Psychoanalyse stimmen darin überein, dass sie den Menschen von der Liebe beziehungsweise dem Eros her deuten und dabei den "Thymos, das heißt den Stolz, das Geltungsbedürfnis, den Selbstbehauptungswillen, auch Zorn und Militanz als sündhaft beziehungsweise neurotisch abqualifizieren.
Sloterdijk differenziert den Zorn nach seinen sozialen Erscheinungsformen: Zorn als Explosion (Wutausbruch), Zorn als Projekt (Rache), Zorn in Bankform (revolutionäre Politik). Und dieser letzten Form des Zorns gilt seine Aufmerksamkeit:
"Bankform heißt, dass der Zorn des ohnmächtigen Einzelnen von darauf spezialisierten Zornagenturen, etwa revolutionären Parteien, gesammelt und in gewinnbringende Projekte investiert wird - analog zum Umgang von Geldinstituten mit den Einlagen des kleinen Sparers, der sich keine Firma kaufen kann, über seine Bank und die von ihr gezahlten Zinsen aber an Großinvestitionen beteiligt ist.
Der Erfolg des Kommunismus (der "Weltbank des Zorns) und der diversen Faschismen (der "Volksbanken des Zorns) beruht darauf, dass sie den Zorn in politisches Kapital verwandelt und mit diesem gewinnorientiert gearbeitet haben.
Kennzeichen der heutigen postkommunistischen Situation ist, dass der Zorn amorph geworden ist: Er erscheint in seiner Primärform, als Vandalismus und individuelle Gewalt, als schwer zu fassende allgemeine Menschenfeindlichkeit, während die Tagesordnung von der erosgesteuerten Konsumgesellschaft diktiert wird.
Eine Zornbank, die den atomisierten Zorn in gesellschaftliche Macht transformieren könnte, ist allenfalls in Gestalt des Islamismus in Sicht. Letzterer verfügt zwar über enormes Destruktionspotenzial, gestützt auf den hohen Jugendanteil muslimischer Gesellschaften (Sloterdijk bezieht sich hierbei insbesondere auf Gunnar Heinsohns Analyse "Söhne und Weltmacht), ist aber nach Meinung des Autors aufgrund seiner eigenen Rückständigkeit und geringen Anziehungskraft für Nicht-Muslime letztlich zum Scheitern verurteilt.
Sloterdijk nimmt den Leser bereits durch die Sprache für sich ein, in der das Buch verfasst ist: Sie ist präzise, stilistisch ansprechend und gut verständlich.
Indem er den Thymos, und speziell den Zorn, als anthropologische Grundtatsache behandelt - und nicht etwa als krankhafte Verirrung -, legt er den Blick auf die ideologischen Vorurteile frei, die nahezu jeder von uns als Selbstverständlichkeiten verinnerlicht hat, obschon sie alles andere als selbstverständlich sind. Man mag diese Art von Aufklärung als ähnlich ambivalent empfinden wie die von Friedrich Nietzsche oder Thomas Hobbes. Sie hat aber den Vorzug hoher Erklärungskraft, und wer sich ihr nicht stellen will, läuft Gefahr, die Welt durch eine rosa Brille zu sehen.
Seine Interpretation revolutionärer Bewegungen als Zornbanken, die Zornmanagement betreiben, ist ein Geniestreich und gehört in den geistigen Werkzeugkasten jedes ernsthaften politischen Denkers. Dabei deutet er an, dass die "Bank-Metapher sich auf sozialer Systeme aller Art anwenden ließe, etwa Kunst, Wissenschaft, Recht und so weiter. Ob sich eine Makrosoziologie der Banksysteme entwickeln wird, die sich durch ihr jeweils spezifisches Medium (etwa Geld, Zorn, Wissen) definieren, steht freilich dahin; spannend jedenfalls ist der Ansatz, und empfehlenswert das Buch.